Soziale Netzwerke, Google, E-Mail: Das Internet bestimmt unseren Alltag - aber in der deutschen Literatur kommt es bislang kaum vor.

Unsere Schriftsteller schreiben, ob im Kleinen oder im Großen, gerne von der Vergangenheit: Sie machen, wie Frank Schulz oder Andreas Maier, die Sucht nach dem Früher zum Mittelpunkt ihres Schreibens. Oder sie malen, wie Ingo Schulze oder Uwe Tellkamp, Gesellschaftspanoramen, die nicht nur eine vergangene Zeit, sondern gleich ein untergegangenes Land abbilden. Andere, wie Brigitte Kronauer oder Uwe Timm, schreiben entweder zeitlos schön oder als Zeitzeugen einer alten Welt, in der das heute unser Leben durchdringende Internet keine Rolle spielte. Von denen erwartet man kein Eintauchen in neue Technologien, man fände es sogar: bemüht.

Aber schreibt denn überhaupt jemand über das Internet und seine Auswirkung auf den Alltag? Es fällt einem Sascha Lobo (geboren 1975) ein, der Berliner Repräsentant der sogenannten digitalen Boheme, die weiß, was sie dem Internet zu verdanken hat: mobile Arbeit mit dem Laptop im Café, bei Latte oder Bionade. In Lobos "Strohfeuer" geht es um die Dotcom-Blase und ihr Platzen, aber fast gar nicht um die zeige- und meinungsfreudige Welt der Blogs, Twitter und Facebook. Dabei sind das doch die Orte, an denen die User heute kommunizieren: Das Setting in Nick Hornbys "High Fidelity", dort treffen sich die Musiknerds im Plattenladen "Championship Vinyl", erscheint heute so altmodisch wie der Tanzkaffee in den 20er-Jahren.

Seit dem Aufkommen der elektronischen Medien hat sich das Buch immer beweisen müssen: gegen die Konkurrenz des Kinos, des Fernsehens, gegen die des Internets. Bücher sind nur zu einem gewissen Grad Massenmedien. Durchschnittsdeutsche schauen drei Stunden Fernsehen am Tag; fast zwei Stunden sind sie online.

Schriftsteller sollten sich fragen, formulierte Anfang der 90er-Jahre der amerikanische Autor David Foster Wallace, wie man die Rolle des Fernsehens in fiktionale Romane einarbeiten könne. Wallace zitierte einen Lehrer an einer Creative-Writing-School, der seine Studenten warnte: Bloß nicht die Tiefe eines Poems durch die literarische Behandlung trendiger Massenmedien zerstören! In dieser romantischen und ernsthaften Lesart ist Literatur zeitlos, sie sperrt das "frivole Jetzt" aus.

Wallace hat sich nicht dran gehalten, in seinem Großwerk "Infinite Jest" dreht sich die Handlung um vieles, besonders aber um die verhängnisvolle Droge Bewegtbild.

Die Rolle des Fernsehens in der Gesellschaft ist längst keine literarische Bearbeitung mehr wert. Noch viel bedeutsamer in seiner Wirkung auf das menschliche Zusammenleben ist heute das Internet: Es bestimmt unseren Alltag mehr noch, als es die Glotze je tat.

Es wird nicht nur passiv konsumiert, sondern bindet das Individuum als soziales Wesen, das online netzwerkt. Menschen haben heutzutage, wenn sie es clever anstellen, eine auf persönlichen und virtuellen Aktivitäten bauende Existenz. Das Internet wird nie "historisch" sein, sondern zeitlos - aber wo findet das Thema in der Literatur statt? Dafür sind Schriftsteller doch da: das zeitgenössische Leben abbilden. Die englische Tageszeitung "Guardian" hat unlängst kritisiert, wie zögerlich englischsprachige Romanciers damit umgehen: dass eine Technologie unser Zusammenleben verändert und in den Alltag (massiv) eingreift. Zuletzt war allerdings Besserung in Sicht: Zum Beispiel, als der amerikanische Großschriftsteller Jonathan Franzen seinem Gutmenschen Walter Berglund in "Freiheit" viralen Ruhm zuteil werden lässt. Wie so oft ein höchst zweifelhafter, sie zeigt den Prinzipienreiter in einem Videoclip bei einer wütenden Tirade gegen seine Gegner - entlarvend und heroisierend zugleich ist das.

Die früher auf der Wohnzimmercouch dämmernde anonyme Masse gebiert im Internet-Zeitalter unzählige YouTube-Stars. Alle anderen bekommen durch das Internet immerhin eine Stimme, mit der sie Geschmacksurteile, Empfehlungen und ihren berühmten "Status" ("War gerade auf dem Klo, Papier ist alle" oder, existenzieller "Eben war ich an der Gepäckannahme am Flughafen! Danach ging die Bombe hoch!") formulieren können. Das Netz ist der Ort der Postmoderne, an dem alles geht und alles gesagt werden kann, weil man für alles ein Forum findet.

Die neuen, in diesem Jahr auf Deutsch erscheinenden Romane von Gary Shteyngart ("Super Sad True Love Story") und Jonathan Lethem ("Chronic City") handeln vom Internet: von seiner Kälte, seiner Flüchtigkeit, seinem Zynismus und seiner Parallelwelt mit gefälschten Identitäten. Deutschsprachige Autoren haben sich bisher weder als Verteidiger noch als Verächter des Netzes geoutet: Sie ignorieren es beinah völlig. Es sollte und dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Literaten darauf besinnen, was unsere Gegenwart bestimmt: WikiLeaks und Facebook, Amazon und Google. Sowenig es bislang den großen Berlin-Roman gibt (wartet da eigentlich noch ernsthaft jemand darauf?), so wenig gibt es überhaupt den großen deutschen Gegenwartsroman: Er fehlt seit Christian Krachts "Faserland" im Jahr 1995, der Roman beschrieb damals die Leere und Langeweile einer verwöhnten Generation, die alles hat, nur keine Identität.

Die Leere wird nun gefüllt: durch die hundertfach verlinkte Verbundenheit des Individuums im sozialen Netzwerk, sei sie gelingend (weil begleitet von wirklichen, authentischen Kontakten) oder katastrophal (weil das "echte" Leben ersetzend). Das Internet generiert Erzählstoffe: Zum Beispiel das "Bullying" genannte Mobbing von Schülern, das oft vom Schulhof ins Netz erweitert wird. Oder den virtuellen Jahrmarkt der Eitelkeiten. Die sagenhaften Aufsteigergeschichten der Internetpioniere wie Mark Zuckerberg, derer sich Hollywood ("The Social Network") bereits angenommen hat. Im Deutschen werden weiter Familienromane geschrieben, gut und schön. In Köln, in einer Verlegerdynastie, spielt derzeit auch ein Familienroman, sagen wir ruhig: ein Familiendrama. In der pikantesten Episode blamiert sich der missratene Sohn mit einem Exzess in einem Medien-Forum, es leitet seinen Sturz ein. Das ist doch eine Geschichte.