Warum die Digitalisierung mehr Chancen als Risiken birgt. Ein Plädoyer für einen gelassenen Umgang mit dem Internet

Hamburg. In ihrem am Montag erscheinenden Buch "Digital ist besser" befassen sich Abendblatt-Redakteur Kai-Hinrich Renner und sein Bruder, der Musikmanager Tim Renner, mit der Zukunft der Medien. Das Abendblatt bringt schon heute eine gekürzte Fassung des ersten Kapitels.

Es ist noch gar nicht so lange her, da war das wirkliche Leben jenseits unserer vier Wände ebenso faszinierend wie bedrohlich. Faszinierend war es, weil man da draußen unbekannte Menschen mit interessanten Meinungen treffen konnte. Es gab neue Kulturen zu entdecken, und man konnte sich verlieben. Da draußen war es aber auch verdammt gefährlich: An jeder Ecke lauerte jemand, der unsere Gefühle verwirren, unsere festen Standpunkte unterminieren, uns um unser Hab und Gut, ja sogar um unser Leben bringen konnte. Der Spießbürger, wie wir ihn einst kennenlernten, verließ deshalb sein Haus nur, wenn nötig. Es reichte ihm völlig aus, die Welt da draußen von seinem offenen Fenster aus zu betrachten, die Arme auf ein bequemes Kissen gestützt.

Der Spießer von heute weiß, dass man zu Hause keineswegs vor den wahren Gefahren dieses Lebens gefeit ist. Im digitalen Zeitalter schleichen kleine Ganoven und echte Schwerverbrecher unbemerkt über digitale Kabel, DSL-Leitungen und UMTS-Frequenzen in unsere vier Wände. Sie spionieren unsere Daten aus, räumen unsere Konten und schänden unsere Kinder.

Ja, der "Tatort Internet" und nicht etwa irgendwelche finsteren Straßenzüge in Problemvierteln ist heute der wahre Schauplatz krimineller Umtriebe. In dieser Meinung bestärken uns nicht nur Boulevardmedien wie RTL II und "Bild". Auch seriöse Wochenzeitungen und Nachrichtenmagazine warnen gerne und intensiv vor den Gefahren, die von Online-Medien ausgehen.

Im Visier der Cyber-Gangster sind nicht nur Normalbürger. Arglosen Medienkonzernen droht wegen der Internet-Piraterie der Ruin. Da muss der Staat helfen: Während Zeitungs- und Zeitschriftenverlage mit einem sogenannten Leistungsschutzrecht Gewerbebetriebe mit Internetanschluss abkassieren wollen, ruft die Musikindustrie nach mehr Internetüberwachung, um illegale Downloads zu verhindern. Derweil drohen Kinobesitzer und Filmverleiher ihrer Kundschaft mit langjährigen Haftstrafen, sollte sie es wagen, ihre Filme illegal zu kopieren. Zudem lassen sie bedrohlich aussehende Platzanweiser mit Nachtsichtgeräten durch die Reihen marschieren, um Filmfreunde aufzuspüren, die mit digitalen Aufnahmegeräten unterwegs sind.

Aber es hilft alles nichts: Trotz allerlei Bedenken und medialem Alarmismus boomt das Internet. Mehr als die Hälfte der deutschen Haushalte haben einen Anschluss ans World Wide Web. Drei von vier Bundesbürgern kommen, egal ob daheim oder im Büro, ins Internet. Darin zu surfen ist kein Privileg der Jüngeren mehr: Die meisten aller Neuanschlüsse ans Netz werden mittlerweile von über 60-Jährigen bestellt.

Die Reduzierung von Information auf Datencodes (Digitalisierung) und deren Verbreitung über Netzwerke (Internet) erfüllt offensichtlich einen massiven Wunsch der Konsumenten, sonst wäre beides nicht derartig erfolgreich.

Eine ähnliche Umwälzung wie heute die Digitalisierung und das Internet haben vor einem halben Jahrtausend Gutenbergs Buchdruck und Luthers Bibelübersetzungen ausgelöst. Bibeln waren nun keine handgeschriebene Mangelware mehr und in deutscher Sprache für jeden Schriftkundigen zugänglich. Diese Information aus erster Hand wurde begierig von den Gläubigen genutzt. Sie mussten nicht mehr glauben, was ihnen von den Kanzeln von oben herab erzählt wurde. Selbstbestimmt konnten sie sich ein eigenes Bild machen und ihren Glauben gestalten.

Dies alles war der Kirche zutiefst suspekt. Sie verlor in der Folge ihre Deutungshoheit und somit auch die Macht über Staat und Gesellschaft. Das System Katholische Kirche sah in Buchdruck und Luther einen Aufstand gegen sich, den sie mit allen Mitteln - Scheiterhaufen inklusive - niederschlagen wollte. Das Ergebnis ist bekannt: Die Mehrheit der gläubigen Deutschen sind Protestanten, auch Katholiken lesen die Lutherbibel, der Vatikan ist schon lange keine Weltmacht mehr und musste sich ein neues Geschäftsmodell jenseits von Latifundien und Ablasshandel suchen.

Fast liegt es bei der Digitalisierung nahe, den Begriff Kirche durch Medienunternehmen zu ersetzen, um die Dramatik zu erklären. Genauso wie einst bei Buchdruck und Bibel werden mit der Digitalisierung Freiheiten und Wünsche verbunden. Es ist der Wunsch, sich zu vernetzen und aus erster Hand bei Facebook zu erfahren, was passiert ist. Es ist die Freiheit, sich über Google Street View dort umzuschauen, wo man hinfahren oder hinziehen möchte. Es ist der Wunsch des Konsumenten, nicht zu warten, bis die neuen Filme auf DVD erscheinen, wenn er sie doch gerne heute Abend im Bett anschauen möchte. Es ist die Freiheit, mit Freunden, denen man früher schon Musikkassetten zusammengestellt hat, die neusten musikalischen Entdeckungen zu teilen, was jetzt dank Internet so einfach geht.

Wir hatten immer den Wunsch und das Bedürfnis, die Grenzen zwischen Medienkonsum und Medienproduktion zu verwischen. Als Punk kam, haben wir uns natürlich auf die Gitarren gestürzt, egal ob wir sie spielen konnten oder nicht. Als Popper oder New Waver haben wir selbstredend mit Moden gespielt und variiert, um uns selbst auszudrücken. Medien und Kulturproduktion waren nichts, was man sich nur erarbeiten, sondern etwas, das man sich erobern musste. Ohne Verständnis der Popkultur ist das Phänomen der Digitalisierung gar nicht richtig zu begreifen

Wir finden es spannend mitzuerleben, wie wir Bestandteil einer gigantischen Veränderung werden. Die Revolution spielt sich dabei aber nicht auf der Seite des Konsumenten ab. Er macht nur das, was er schon immer getan hat. Nur die Mittel zur Verwirklichung seiner Wünsche haben sich dank Digitalisierung und Internet optimiert. Die Revolution muss sich im Angebot und Denken von Plattenfirmen, Verlagen, Rundfunkstationen und allen anderen, die mit digitalisierbaren Gütern ihr Geld verdienen, vollziehen. Ein Optimieren von Geschäftsmodellen reicht da nicht aus, denn potenziell verschwinden eher ihre Strukturen als die Wünsche der Konsumenten. Darin besteht die gigantische Veränderung.

Die Digitalisierung bewirkt große Umbrüche. Mit der These, dass Massenmedien obsolet werden, wenn die Masse Medien macht, wollen wir niemanden verschrecken. Im Gegenteil, wir glauben an neue Geschäftsmodelle. Sie werden aber nur funktionieren, wenn sie mindestens so gut sind wie das, was das Netz bereits jenseits der Legalität bietet. Wer die vielen Vorteile der Digitalisierung nutzen will, wird dies nur erfolgreich tun können, wenn er bereit ist, die Kontrolle über Inhalte aufzugeben. Der Konsument wird sich nicht mehr vorschreiben lassen, wann er was unter welchen Bedingungen nutzen darf. Ohne sein Gewinnstreben aufzugeben, muss der Produzent loslassen können, wenn es um die Inhalte geht. Eine weitere Voraussetzung ist Transparenz. Neben Freiheit verlangt der Konsument auch Partizipation.

Freiheit und Teilhabe sind die Grundbedingungen einer demokratischen Gesellschaft. Wer will ernsthaft behaupten, dass eine Medienwelt, die auf diesen Werten beruht, eine schlechte sei? Digital ist besser!

Kai-Hinrich Renner, Tim Renner: "Digital ist besser" Campus, 246 Seiten, 22 Euro. Ein Vorabdruck des Schlusskapitels steht in der am 6. März erscheinenden Ausgabe der "Welt am Sonntag".