Doppeltes Drama: Michael Thalheimers Version von “Ödipus/Antigone“ gastiert im Schauspielhaus. Gelobt werden vor allem die Schauspieler.

Hamburg. Michael Thalheimer ist im Theater der Mann fürs Eingemachte. Für schneidende Gefühlskälte, Vereinzelung, Depression des Individuums in den Zwängen der Postmoderne. Die Hamburger wissen das. Sie haben unter der Intendanz von Ulrich Khuon am Thalia-Theater mit vielen seiner Figuren geliebt und gelitten. Mit der einfachen Dorfmagd Rose Bernd, dem zaudernden Hamlet, mit Lulu und den Liebenden im "Reigen". Seine "Liliom"-Aufführung wurde bundesweit kontrovers diskutiert.

In den vergangenen Jahren arbeitete Thalheimer ebenfalls sehr erfolgreich am Deutschen Theater in Berlin, steht im Ruf, einer der profiliertesten Vertreter des Regietheaters der jüngeren Generation zu sein. Sechs seiner Arbeiten wurden bislang zum Theatertreffen eingeladen. An diesem Sonnabend gibt es ein unverhofftes Wiedersehen mit dem Regisseur, der gerne mal für einen Aufreger gut ist. Der Anlass ist weniger schön. Das Schauspiel Frankfurt, seit der Spielzeit 2009/2010 unter der viel beachteten Leitung von Oliver Reese, schenkt dem nach Intendantenflucht und Spardiskussion angeschlagenen Schauspielhaus seine Eröffnungsinszenierung als Gastspiel: "Ödipus/Antigone" nach Sophokles. Regie: Michael Thalheimer.

Es ist das doppelte Drama von Fluch und Rache, von Macht und Familienzwist und damit wie für einen großen Thalheimer-Abend geschaffen. Und für ein politisch motiviertes Gastspiel, in dem es auch um zu späte Einsicht, Hybris und politische Verblendung geht. Ödipus, der glücklose Herrscher von Theben, unterliegt dem gleichen Fluch wie seine Tochter Antigone. Unwissend ehelichte er seine eigene Mutter Iokaste, den eigenen Vater Laios erschlug er. Diese entsetzliche Selbsterkenntnis erlangt er ausgerechnet in dem Moment, in dem er sich als Individuum und gesellschaftliches Wesen von der Götterwelt emanzipiert. Der erstmals autonom Handelnde erkennt seine Ohnmacht und geht an ihr zugrunde. So will es der Mythos.

Antigone wiederum erhebt Anspruch auf das sittliche Gesetz, als sie ihren gefallenen, von Kreon als Stadtfeind verdammten Bruder Polyneikes, der im Streit um Ödipus' Nachfolge seinen Bruder Eteokles erschlug, begraben will. König Kreon, Antigones Onkel, verweigert ihr diesen Wunsch. Die Achtung der Würde des Einzelnen über den Tod hinaus unterliegt der Staatsräson. Am Ende stehen auch hier Vernichtung und Tod.

Die Kritiken hoben die wie immer karge Bühnenkunst Thalheimers hervor. Bringt er in der Regel eher das Gerippe eines Stoffes auf sportlich kurze Länge, erstreckt sich das Doppeldrama über fast vier Stunden. Im spartanischen Raum von Bühnenbildner Olaf Altmann läuft es archaisch und aufs Wort konzentriert auf sein Ende mit Schrecken zu. Eine hochgelobte Darstellerriege unter anderen mit Marc Oliver Schulze als Ödipus/Kreon, Constanze Becker als Iokaste/Antigone und Oliver Kraushaar als Bote/Wächter stattet die Figuren mit einem lautmalerischen Expressionismus aus. Statt analytischer Blutleere vermitteln sie etwas Skulpturenhaftes. Mit unheimlichen Tütenköpfen grotesk verzerrt, tritt der Thebaner-Chor auf. Thalheimers Leib- und Magenkomponist Bert Wrede hat dazu wie üblich eine schneidende Tonspur verfasst.

Constanze Becker, inzwischen vom Deutschen Theater ins Ensemble des Schauspiels Frankfurt gewechselt, hatte noch in ihrem Auftritt als Ernst-Busch-Schülerin in Andres Veiels Filmdokumentation "Die Spielwütigen" vor sechs Jahren beklagt, dass sie immer schwere, antike Frauenrollen verkörpern müsse. Die hymnischen Stimmen zu ihrer Interpretation der Iokaste belegen allerdings, dass sie das verdammt gut beherrscht.

Weil "Ödipus/Antigone" aber nun mal kein Gastspiel wie jedes andere ist, legt Intendant Oliver Reese an diesem Sonntagvormittag mit einer Matinee im Malersaal im Schauspielhaus nach. Unter Leitung von Volker Corsten (FAZ) diskutiert er mit dem Literaturwissenschaftler und Gründungsmitglied der Grünen, Willfried Maier, über ein hochaktuelles Thema: "Die Zukunft des Stadttheaters".