Ab morgen stehen Jérome Bel und Anne Teresa De Keersmaeker, zwei Stars der internationalen Tanzszene, gemeinsam auf der Kampnagel-Bühne.

Hamburg. Ist es gespieltes Entsetzen oder tatsächlich immer noch fassungsloses Staunen, wenn Jérome Bel gewissermaßen mit drei Ausrufezeichen behauptet: "Was für eine verrückte Idee hatte sie da, und dann noch zu glauben, ich könnte ihr dabei helfen." Sie, das ist die belgische Choreografie-Ikone Anne Teresa De Keersmaeker, die ihn, den puristischen französischen Konzepttanzkünstler gebeten hatte, den "Abschied" - Teil sechs aus Gustav Mahlers sinfonischem Liederzyklus "Das Lied von der Erde" - gemeinsam zu erarbeiten. "Sie war besessen von der Musik und kam einfach nicht mit ihr klar", erinnert sich Bel, der von sich aus niemals gewagt hätte, die große Kollegin anzusprechen. Obwohl er, wie De Keersmaeker, zu den Stars der internationalen Tanzszene gehört.

Das im Februar 2010 in Brüssel uraufgeführte Ergebnis ihrer Arbeit, "3Abschied", wird Freitag und Sonnabend in der Reihe Elbphilharmonie-Konzerte auf Kampnagel zu sehen sein.

"Der Abschied", der bewegendste, weltverlorenste Teil des Zyklus, handelt von der Auseinandersetzung mit dem Tod. Wie ist das körperlich darstellbar? Überhaupt nicht, befand der Dirigent Daniel Barenboim, Chef der Berliner Staatsoper unter den Linden, den De Keersmaeker für ihr Projekt gewinnen wollte. Das Lied stehe absolut da und könne nicht vertanzt werden. Recht hat er. Zumal die Choreografin als Basis ihrer Arbeit die legendäre Schallplattenaufnahme von 1952 mit den Wiener Philharmonikern unter Bruno Walter gewählt hat. Kathleen Ferrier, die unvergleichliche Mezzosopranistin, sang es damals im Wissen ihres baldigen Todes. Sie hatte Krebs.

Wenn sie am Schluss des Liedes das Wort "ewig" siebenmal singt, langsam verlöschend, als sei sie nicht mehr auf dieser Welt, dann ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Auch kein Tanz. "Warten Sie es ab. Darüber möchte ich nicht reden. Das ist ein Punkt der Aufführung", bittet Bel, den De Keersmaeker dann doch überzeugen konnte. "Es ist unser Versuch, ein Problem zu lösen. Nämlich, wie man eine solche Musik vertanzen kann. Es ist deshalb mehr eine Suche als ein Resultat. Wer kann schon ein endgültiges Statement zu dem Thema Tod abgeben. Das ist so persönlich, und es bleibt das größte Geheimnis unserer Existenz."

Seine Arbeit bestehe hauptsächlich darin, erläutert Bel, "Dinge auseinanderzufalten, um sie klarer zu machen. Das war sicher auch der Grund, weshalb sie mich gefragt hat." Am Ende seien beide, trotz mancher Kompromisse, glücklich gewesen über das, was sie zuwege gebracht haben. "Gerade, weil das Stück kantig, eckig, polemisch ist. Wir haben uns frei gefühlt, sie hat mich nicht eingeengt. Im Gegenteil, sie hat mich befreit. Sie hat mich unbekannte Territorien entdecken lassen, und ich hoffe, umgekehrt ist es genauso."

Dennoch. Als was müssen wir dieses Stück verstehen? "Als eine Hilfe, einen Führer, jeden von uns darauf vorzubereiten, dem Tod ins Gesicht zu sehen und Frieden zu finden, wenn er kommt." Jérome Bel selbst glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod, an die Ewigkeit. Lakonisch sagt er: "Ich glaube nicht an Gott, genauso wenig wie Gustav Mahler. Deshalb liebe ich dieses Stück Musik auch besonders, weil es überhaupt nicht religiös ist." Warum aber heißt der Titel "3Abschied"? Weil sich die Trias De Keersmaeker, Bel und Mahler mit dem Thema auseinandersetzt? Weil es in dieser Performance gleich drei Interpretationen gibt? Einmal die von Ferrier gesungene, dann eine, die die Sopranistin Sara Fulgoni live singt, begleitet vom weltberühmten Ictus Ensemble, zu dessen Musik sich auch die Choreografin bewegt? Oder weil sich am Ende De Keersmaeker traut, selbst zu singen, obwohl sie es eigentlich gar nicht kann? Oder weil Bel die Musiker auf offener Bühne "sterben" lässt, bevor Anne Teresa de Keersmaeker anfängt zu singen?

Fragen, die der 46-jährige Bel nicht beantworten will, weil er das Publikum überraschen möchte. Damit das nicht gänzlich ahnungslos bleibt, erzählen De Keersmaeker und Bel, wie es überhaupt zu der gemeinsamen Arbeit kam und geben Einblicke in die Musik.

Für manchen wird "3Abschied" möglicherweise befremdlich sein, aber niemand wird so schockiert sein wie 2000, als Jérome Bel für das Schauspielhaus unter der Intendanz von Tom Stromberg mit Schauspielern des Ensembles sein Stück "The Show must go on" uraufführte. Um die Essenz aus drei Jahrzehnten Popmusikentwicklung zu präsentieren, hatte Bel 20 Schauspieler aus dem Ensemble animiert, sich, wie auch immer, dazu zu bewegen, bis alle langsam verschwinden. "Es war ein solcher Aufruhr im Publikum", erinnert sich Bel. "Der Anfang war wirklich schwierig. Aber ich bin sehr stolz darauf. Das Stück ist überall in der Welt aufgeführt worden, aber in Hamburg wurde es geboren."

Der nächste Bel-Erfolg in der Hansestadt kann also kommen.

"3Abschied" , Kampnagel-Kulturfabrik, 12. und 13. November, 20 Uhr, Karten von 15 bis 35 Euro