Die Premiere ist geglückt: Das Festival Überjazz auf Kampnagel holt Hamburg mit einem Schlag aus der Provinzialität auf die ganz große Bühne.

Hamburg. Den Himmel gibt es wirklich, die Hölle ist eine Erfindung des Menschen. Wie wahr diese These ist, konnten die Besucher des ersten "Überjazz"-Festivals am vergangenen Sonnabend auf Kampnagel erfahren. Nur ein paar Meter Luftlinie und ein Viertelstündchen auseinander lagen die Darbietungen der Sängerin Lizz Wright und des norwegischen Quintetts Shining, doch energetisch weiter voneinander entfernt dürften Elysium und Purgatorium auf so engem Raum in der Musik kaum zu bekommen sein.

Lizz Wright, Pastorenkind aus Georgia, brauchte mit ihrer Autorität, ja, Majestät der Gospelsängerin bloß den Mund aufzutun, um die hingerissen lauschende Menge in der rappelvollen K 6 auf Kampnagel fühlen zu lassen, dass das unendliche Reservoir aller Kunst im Geistigen ruht, in der selbstgewissen Rückverbindung zur spirituellen Quelle. Dort sicher aufgehoben sang La Wright jenseits aller Kunstfertigkeit, erst recht jenseits allen jazztypischen Kunstgewerbes, ihre elementar einfache, großartige, in der schlichten Bluesharmonik verwurzelte Musik. Entsprechend hingebungsvoll diente die Band ihrer himmlischen Hohepriesterin. Zeitzeugen beschworen Mahalia Jackson selig herauf, coole Kritiker sahen ihre professionelle Skepsis gegen allzu viel gesungenes Gotteslob von mancher Träne fortgeschwemmt.

Shining dagegen faszinierten mit atemberaubend ausgefuchstem, infernalischen Lärm, den auch die am Eingang großzügig verteilten labbrigen Ohrstöpsel kaum zu lindern vermochten. Doch die satanische Verve ist nur Spiel mit einer geliehenen Identität; "Blackjazz" nennen die Jungs um den herrlich diabolisch sprechgesangsröhrenden Saxofonisten und Gitarristen Jørgen Munkeby ihre 1200-U/Minute-Schleudergangsmusik, die wie eine zugleich ehrfürchtige und ironische Verbeugung vor allen Speed- und Deathmetalbands rüberkam.

Zwischen diesen beiden Polen gab es wenig, was es bei Überjazz nicht gegeben hätte. Zackige, hochintelligent mit Samples und Elektronik verwirbelte Bigband-Sounds des genialischen britischen Musikzappelphilipps Matthew Herbert, der sein Orchester zudem ein ganzes Stück lang minutiös die Sonnabendausgabe der "Bild" in Fetzen reißen und als Konfettiregen über die Kollegen niedergehen ließ. Ein umwerfend gut aufgelegtes John Scofield Trio, das mit seinem kollektiv minimal verschleppten Groove begeisterte und zudem bewies, dass man mit plus/minus 60 noch zehnmal aufregender spielen kann als das Gros der Jungspunde.

Doch auch die hatten es in sich. Der Hamburger Saxofonist Frank Delle präsentierte sich an Bassklarinette, Sopran- und Tenorsaxofon mit der Kölner Rhythmusgruppe Robert Landfermann (Bass) und Jonas Burgwinkel (Schlagzeug), die einmal mehr ihrem Ruf als die deutschen Sly & Robbie gerecht wurden.

Jason Moran & Bandwagon spielten eine derart eigene Klaviertrio-Musik, dass man am Ende am liebsten alles noch mal von vorn gehört hätte, um etwas besser zu begreifen, worauf sie hinauswollen. Bloß nichts Vorhersehbares!, scheint die Maxime dieses dennoch fraglos in der Kontinuität der interessantesten amerikanischen Musik improvisierenden Trios zu sein.

Die zarte Koreanerin Youn Sun Nah entzückte wegen der Radikalität, mit der sie ihre beachtlichen gesanglichen Reservetanks plünderte. Mocky entzauberten sich als B-Besetzung eines Schülerbandwettbewerbs, und der äthiopische Vibrafon-Methusalem Mulatu Astatke beschwor mit den Heliocentrics aufs Neue die hypnotische Qualität modaler Musik im 6/4-Takt. Fazit: eine glorios gelungene Premiere, die Hamburg nach Jahrzehnten der Provinzialität plötzlich wieder auf den Festivalkalender der Jazzwelt setzt.