Weltstar Alice Sara Ott spielt in Harburg eine neue Beethoven-CD ein. An einem besonderen Flügel, den auch Lang Lang für seine Konzerte ordert.

Hamburg. "Ab Takt 65 ist der Bass noch etwas zu laut. Und von 9 auf 10 gibt es so ein leichtes Zögern - ist das Absicht?" Von unten, aus dem verdunkelten Saal, spricht: "Ich wollte da ein bisschen anders spielen." - "Bitte noch mal eine Variante ..." - "Ok, probiern wir's mal." Und nur ein hauchzarter Unterton klingt so, als habe man gerade einen Teenager aufgefordert, beim Abwasch zu helfen. Es ist der fünfte Versuch, unten im Saal sitzt Alice Sara Ott am Steinway-Flügel. 22 Jahre jung, gertenschlank, barfuß, Jeans, dünner grauer Pullover - und gerade ziemlich weit weg von dem gestylten Superstar auf ihren Platten-Covers und Konzertplakaten.

Konzentration, rote Lampe: "Aufnahme". Ihre Finger toben über die 88 Tasten. Ludwig van Beethoven, die "Wut über den verlorenen Groschen". Höchstgeschwindigkeit, vertrackte Fingersätze, Risiko pur. Ihr Publikum, das sind heute statt der 1100 Zuhörer, die in der Harburger Friedrich-Ebert-Halle Platz hätten, sieben Mikrofone. Sechs für die Deutsche Grammophon und eines zur Kommunikation mit Tonmeister Helmut Burk und Tontechniker Mark Buecker.

Die beiden sitzen eine Etage weiter oben backstage, durch eine Glasscheibe akustisch vom Saal getrennt, vor ihren Kabeln, Laptops und Festplatten. Gleich fünffach wird gespeichert, was die junge Pianistin dem Flügel entlockt - sicherheitshalber. Auf dem Mischpult ist ein eleganter, aus Papier gefalteter Kranich gelandet - Origami, die Künstlerin hat japanische Wurzeln.

Helmut Burk schaut auf die Noten, er liest mit und macht sich bei jeder Aufnahme kleine Notizen; jeder "Take" wird registriert, mit seinen Stärken und Schwächen. Vier- bis fünfmal wird jeder Abschnitt aufgenommen, einzelne Stellen öfter. Weil ein Ton im Diskant zu hart klingt, eine Note verloren ging, irgendwo trotz aller Vorsicht eine Tür ins Schloss fiel. Manchmal gelingt auch der ganze Satz einer Sonate am Stück.

Ausnahme-Pianistin beim SHMF-Konzert in Bad Segeberg

Wie wohl die Beatles am 22. und 23. Juni 1961 ihre erste Plattenaufnahme erlebt haben? Hier, in der Friedrich-Ebert-Halle? Damals spielten sie, eigentlich noch Begleitmusiker für Tony Sheridan, auch ein paar Stücke ohne ihn ein. Produzent damals: der legendäre Bert Kaempfert. Auf der Plattenhülle kamen die Beatles gar nicht vor. Das muss Alice Sara Ott nicht befürchten.

Die Friedrich-Ebert-Halle wird gern gebucht für Tonaufnahmen. Der Backsteinbau von 1929/30 hat dafür den idealen Nachhall, etwa 1,5 Sekunden, liegt abgerückt von Straßenverkehr und sonstigem Lärm, wenn der Unterricht am Friedrich-Ebert-Gymnasium beendet ist. Und kann nachmittags und an Wochenenden reserviert werden. TV-Shows mit Peter Frankenfeld kamen von hier. Die Deutsche Grammophon ist oft zu Gast, gern auch mit kompletten Sinfonie-Orchestern.

Sieben Tage sind für Alice Sara Ott, Helmut Burk und Beethoven reserviert. Der Saal wird durch schwere Vorhänge verdunkelt, der Flügel steht im leer geräumten Parkett, eine einzige Leuchte verbreitet warmes, gedämpftes Licht. "So fühl ich mich am wohlsten", sagt die junge Künstlerin. "Ist ein bisschen wie Konzert." Den Steinway D mit der Nummer K-225 - ein Flügel, den auch Lang Lang gern quer durch Europa ordert - haben Tonmeister und Pianistin gemeinsam ausgesucht. Er wollte für Beethoven Farbigkeit und Bandbreite im Klang, ein singendes Piano, ein kräftiges und klangvolles Forte - "einen Klang, der sich bewegt". Sie kennt das Instrument von Konzerten, "der Flügel hat eine gewisse Reife - wie wenn man nach einem sehr guten, gereiften Wein ein bisschen angeheitert ist. Beim Chopin hab ich schon gemerkt, dass der tiefsinnig ist."

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Der Rest - das sind sechs Tage Encounter. Vertrauen, blanke Nerven, ein bisschen Psycho und die Freude über Gelungenes. Bei einer Aufnahme wird sehr offen geredet. Deswegen bleiben Künstler und Tonmeister sonst gern unter sich. Man duzt einander, sie sagt: "Ich bin dankbar, wenn er kein Süßholz raspelt, sondern streng auf das Resultat achtet." Er darf loben und kritisieren, auch mal bis in Feinheiten der Interpretation hinein. Da ist kein Raum für Eitelkeiten, es geht um Momente der Wahrheit, durch die gnadenlose Wiederholbarkeit fast noch stärker gefordert als im Konzert. Und um Glücksmomente, wenn etwas so funktioniert, wie's der Kopf längst fertig hatte. Wenn K-225 singt und Beethovens "Für Elise" tatsächlich anfängt wie aus dem Nichts, so als habe die Musik schon gespielt, bevor sie hörbar wurde.

In den Aufnahmepausen ist Alice Sara Ott gut drauf. Ihre Anspannung, Euphorie und die Adrenalinschübe lösen sich erst am Abend. Im Hotelzimmer, mit Freund, Freunden, Eltern, Musikern über die unterschiedlichsten Handy-Flatrates verbunden. Bis sich im Kopf bestimmte Stellen wieder bemerkbar machen, die am nächsten Tag drankommen.

Immer wieder sitzen Ott und Burk über den Noten, hören, diskutieren und wählen die Takes aus, die am Ende die fertige CD ergeben. Zwei bis drei Wochen dauert der Schnitt. 2011 werden Klavierfans dann den Harburger Beethoven überall kaufen können, in Deutschland, in Japan etwas früher.

Richtige, tiefe Ruhe? Die findet sie in den japanischen Tempeln, "da hab ich das Gefühl, dass ich meinen japanischen Wurzeln sehr nahe bin". Die sind sehr stark, sagt sie, "auch unbewusst". Drei-, viermal im Jahr ist sie in Japan.

Auf ihrem iPod hat sie alles Mögliche, Schubert-Lieder, Pop, Rock, 70er- und 80er-Jahre. Nur ihre eigenen Aufnahmen nicht. "Warum? Die hab ich dann hinter mir gelassen. Ich stell mir das so vor, dass ich einen langen Weg gehe, immer mal wieder hinterlässt man einen Fingerabdruck oder kleine Steine, die ihn markieren. Aber da bleibt man ja auch nicht stehen, selbst wenn sich manches nie verändert. Man spielt vieles immer wieder anders."

Solche Steine, die den Weg markieren, sind auch Tschaikowskys und Liszts jeweils erstes Klavierkonzert auf ihrer neuen CD. Jetzt, wo die frisch in den Läden liegt, ist Alice Sara Ott längst wieder unterwegs - zu zwei Konzerten in Yokohama und Tokio.

Alice Sara Ott: Münchner Philharmoniker, Thomas Hengelbrock: Tschaikowsky/Liszt - First Piano Concertos. Deutsche Grammophon