“Des Canyons aux Étoiles“, die Saisoneröffnung der Hamburger Symphoniker, verspricht ein audiovisuelles Ereignis ersten Ranges zu werden

Hamburg. Das dramaturgische Geheimnis für den Start an sich hat einst der Dichter Hermann Hesse formuliert: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne." Die Hamburger Symphoniker verlassen sich nicht mehr darauf, dass sich dieser Zauber zum Beginn einer jeden neuen Saison von allein einstellt. Sie helfen nach und geben sich dabei schon länger besondere Mühe. Weil sie sich als Orchester mit gesellschaftlicher Verantwortung sehen, das seinem Publikum nicht einfach nur ein paar schöne und erhabene Stunden bereiten möchte, holen sie das musikalische Erleben aus dem Elfenbeinturm und rücken es näher an unsere Lebenswirklichkeit. Die musikalische Reflexion von Politik und Zeitgeschehen prägte bereits den Beginn der letzten Spielzeit, die sie mit Benjamin Brittens "War Requiem" eröffneten. Aber noch nie haben die Hamburger Symphoniker es mit dem Zauber des Anfangs so weit getrieben wie in diesem Jahr. Ihre Saisoneröffnung am Sonntag in der Laeiszhalle verspricht nichts weniger, als ein bewusstseinserweiterndes audiovisuelles Ereignis ersten Ranges zu werden.

Olivier Messiaens gewaltiges und mächtig schwer zu spielendes Werk "Des Canyons aux Étoiles" (aus den Schluchten zu den Sternen) wäre für sich genommen schon ein mutiges Statement gewesen. Das Stück dauert gut anderthalb Stunden und bezieht noch nicht einmal das volle Orchester ein - es ist geschrieben für 40 Instrumentalisten, darunter drei Solisten (Horn, Xylorimba, Glockenspiel), und Soloklavier (Francesco Tristano). Messiaen schrieb das Werk zwischen 1971 und 1974 im Auftrag einer Mäzenin, die damit den 200. Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung feiern wollte. Der katholische Meister der in Musik übersetzten Vogelgesänge reiste in die USA, zeigte sich überwältigt von der Schönheit der Natur und komponierte eine aus zwölf Teilen bestehende Hommage an die Landschaft.

Das Stück ist selbst Kennern des Messiaen'schen Oeuvres nicht unbedingt geläufig. Zu denen zählt auch Daniel Landau, 1973 in Jerusalem geboren und einer der ganz wenigen Künstler auf der Welt, bei denen sich profundes Wissen über Musik mit einer starken Begabung für moderne visuelle Gestaltungsformen verbindet. Landau hat Komposition studiert, "aber Musik habe ich immer wie ein Regisseur verwendet. Sie ist nicht mehr als die aurale Komponente meiner Sachen." Messiaen hat er während des Studiums ausführlich analysiert. Doch "Des Canyons aux Étoiles" war auch für ihn neu.

Weil Hamburg im kommenden Jahr zur "Green Capital" wird, dachten sich der Intendant der Symphoniker Daniel Kühnel und ihr Chefdirigent Jeffrey Tate, man müsse über die Musik hinaus noch ein Zeichen setzen. Dabei stießen sie auf die Arbeiten Daniel Landaus, der eine avancierte Form der Videokunst betreibt, hoch musikalisch und absolut modern. Sie erteilten ihm den Auftrag, zu Messiaens klingender Eloge einen Film zu drehen.

RATHAUSKONZERT DER SYMPHONIKER

Hätten sie gewusst, worauf sie sich dabei einlassen, hätten sie es sich vielleicht noch einmal überlegt. Das erste Screening sei für Tate ein Schock gewesen, erzählt Landau. Doch bald verstanden die Auftraggeber, dass dieses Filmkunstwerk gerade deshalb eine so nachhaltige Wirkung hinterlässt, weil es Messiaens Musik und seine Intentionen konsequent in die Gegenwart weiterdenkt. Landau hat mitnichten die letzte unberührte Größe der Natur abgefilmt. Stattdessen entwickelte er über viele Monate hinweg Bruchstücke zu einer durcherzählten Filmgeschichte, die sich dann sehr plötzlich in eine sinnvolle, poetische und trotz ihrer Bedeutungsschwere ganz unaufdringliche Ordnung fügten. Landau greift auf subtile Weise und auf mehreren Ebenen Messiaens Satzbezeichnungen auf, aber sein Film verhält sich zur Musik wie ein geträumter Kontrapunkt.

Statt die Erhabenheit der Natur zu illustrieren, zeigt Landau auf einer dreigeteilten Leinwand eine Schöpfungsgeschichte, die im Toten Meer ihren Ursprung nimmt und bis zur Peripherie der Städte führt, mit monströsen Industrieanlagen und Abfallhalden, über denen malerisch die Störche kreisen. Auch durch die fast schlaftrunkene Langsamkeit der Bilder erscheint das Hässliche so schön wie selten. Der Film verschweigt nicht die Gewalt und die Entfremdung, die harten Verteilungskämpfe und den ökologischen Bankrott, dem die von Messiaen noch so gepriesene Schöpfung entgegentreibt. Doch so ernüchternd manche seiner Bilder erscheinen mögen, so tief, irreal und bewegend sind die ikonografischen Gebilde, die er erfunden hat. Ein von zwölf Glühbirnen erhellter Lichterkranz umgibt die Gesichter von Obdachlosen in Israel wie ein Heiligenschein. Später kommt eine Abendmahlsszene auf wackligen Tapeziertischen vor. Auch Messiaens Schlusssatz von Jerusalem, der Himmelsstadt, erfährt in Landaus visueller Fantasie eine durchaus überraschende Deutung.

Gefilmt ist alles das im Stile einer cineastischen Arte povera, die mit minimalen Mitteln zum einen dem Maximalismus Messiaens, zum anderen dem Maximalismus des Themas faszinierend eigenständig gegenübertritt. Und vor allem entspricht der Film derart kongenial der Musik, dass selbst Anfangsskeptiker Jeffrey Tate bald bekehrt war: "It fits."

Über der Bühne wird nicht einfach nur eine dreigeteilte Leinwand hängen. Landau hat seinen Lichtdesigner Jackie Shemesh mitgebracht, der mit einer einfachen, aber wirkungsvollen Installation den Raum gestaltet. Und der Videokomponist selbst wird seinen Film live vom Computer aus so steuern, dass Bilder und Musik jeweils genau zueinanderpassen. "Wir wagen viel, wir schwitzen viel, aber ich denke, wir schaffen etwas sehr Aufregendes", sagte Jeffrey Tate am Donnerstagabend in einer kurzen Probenpause.

Nach allem Anschein entsteht zum Saisonbeginn der Symphoniker tatsächlich ein Kunstwerk von sozialer Dimension. Das jedenfalls ist die erklärte Absicht seines Intendanten Daniel Kühnel: "Als einziges originäres Hamburger Symphonieorchester positionieren sich die Hamburger Symphoniker im Herzen des soziales Gefüges, dem sie entspringen." Und wer denkt, für ein so einmaliges Konzert sei das dann doch alles ein bisschen viel Aufwand, der mag sich mit der Information beruhigen, dass die Symphoniker das Werk im kommenden Jahr auf Tournee in den USA präsentieren werden - dort, wo es ursprünglich hingehört. Auch und gerade in der verstörend schönen visuellen Ergänzung durch Daniel Landaus filmische Fantasie.

"Des Canyons aux Étoiles", Sonntag, 19 Uhr, Laeiszhalle, Karten in den Abendblatt-Ticketshops und an der Abendkasse