Er ist ein flotter Gesprächspartner, lernte Hamburg langsam lieben: Jeffrey Tate hat seine Arbeit als Chef der Hamburger Symphoniker begonnen.

Hamburg. Der Mann redet so schwindelerregend schnell und vernuschelt, dass selbst geübte Benutzer des Englischen die Ohren spitzen müssen, um all die kleinen Randbemerkungen mitzubekommen, die Jeffrey Tate beim Sprechen so in den Sinn schießen.

Hätten wir ihn doch auf Deutsch befragen sollen? Das hätte nichts geändert, denn das Deutsche rollt ihm kaum weniger flott von der Zunge. Wenige Tage vor dem "Antritt Tate" genannten Konzert mit Benjamin Brittens "War Requiem" sitzt der Brite, der nun endlich auch offiziell Chefdirigent der Hamburger Symphoniker wird, mit aufgeschlagener Partitur im Dirigentenzimmer der Laeiszhalle.

Seine Pony-Frisur sieht aus wie selbst geschnitten, er trägt eines jener Hemden mit bunten Streifen, in denen er auch im Filmporträt "Aus eigener Kraft" zu bewundern ist, das Arte und NDR am Sonntag zur besten E-Musik-Sendezeit (6 bzw. 8 Uhr früh) ausstrahlen. "Ja, der Film wirkt wie eine einzige Hemden-Parade", sagt Tate grinsend. "Das hier habe ich in Neapel in einem Laden in der Nähe meiner Wohnung gekauft. Sehr schön, aber leider sündhaft teuer!"

Mit der extravaganten Wahl seiner Oberbekleidung wäre die Eitelkeit des Jeffrey Tate bereits erschöpfend beschrieben. Der im Kriegsjahr 1943 als Sohn eines Postbeamten und einer Hausfrau in Salisbury geborene Künstler ist das exakte Gegenteil jener Halbgötter in Schwarz, die mit Brillantine im Haar, verklärtem Antlitz und der Aura des Genies den menschlichen Ehrfurchtsreflex auslösen.

Zum Zampano-Darsteller fehlt Tate der autoritäre Charakter, aber auch die körperliche Disposition. Von klein auf mit einer schweren Wirbelsäulenverformung geschlagen, schieden die üblichen Selbstbehauptungsdisziplinen heranwachsender Jungen - Raufen, Fußballspielen - für ihn von vornherein aus. "Ich konnte gut singen und Klavierspielen, damit habe ich das kompensiert."

Den Eltern zuliebe wurde Tate Arzt und nicht Musiker. Doch nach zwei Jahren in der Augenchirurgie schubste ihn sein Professor freundlich zurück in die Musik: "Sonst bist du mit 45, 50 Jahren ein unglücklicher Mensch, Jeffrey!" Tate folgte - und wurde sehr glücklich.

Der Vokalmusik, insbesondere der Oper, gilt seine Leidenschaft. Wagner, Mozart, Strauss - und immer wieder Britten. Tate nennt den Komponisten, den er als junger Sänger persönlich kennengelernt hat, beim Vornamen. Ihm gefällt, dass Ben immer so genau aufgeschrieben hat, wie er seine Musik gespielt haben wollte. Trotzdem wimmelt es in Tates Partitur auf dem Tischchen unterm Spiegel im Dirigentenzimmer von Kreisen und geheimnisvollen Zeichen, mit rotem und blauem Buntstift notiert.

"Das habe ich Pierre Boulez abgeguckt", erklärt Tate. "Mit Rot markiere ich mir die Dynamik, mit Blau die Instrumentierung." Als Assistent von Boulez bei dessen "Ring" in Bayreuth 1976 lernte Tate Deutschland kennen. Bei aller Liebe zur deutschen Musik: Die Liebe zum Land hielt sich in Grenzen.

Als Christoph von Dohnányi 1977 die Intendanz der Hamburgischen Staatsoper übernahm, wollte er Tate "als Sidekick", als seinen Unterstützer, engagieren. Doch der gab ihm einen Korb: "Ein schwerer taktischer Fehler", sagt er heute. Dohnányi habe ausführlich gegrollt, ehe sie wieder Freunde wurden.

Heute nennt Tate Hamburg die "angenehmste Stadt in Deutschland". Er mag den Hafen, dass die Stadt nach Westen schaut und "etwas Englisches" hat. Auch die Laeiszhalle findet er ideal: "Blech und Schlagzeug klingen etwas zu laut, aber die hier kaum gespielten Sinfonien von Elgar würden in dem Saal wunderbar klingen!"

Während der Proben- und Konzertphasen residiert Jeffrey Tate mit seinem Lebensgefährten im Hotel. Nur in Neapel, wo er seit vier Jahren als Musikdirektor am Teatro di San Carlo wirkt, hat Tate sich eine Wohnung genommen. Sein Zuhause ist das Unterwegs - und die Bibliothek, die in einem Lagerhaus auf die Fertigstellung des Generalumbaus seines Hauses im Londoner Stadtteil Camden warten muss.

Im Film lernen wir den passionierten Leser Tate auch als Kenner und Sammler von Porzellan der Jahre 1710 bis 1730 kennen: "Wäre ich nicht Dirigent geworden, hätte ich wahrscheinlich die Kunst zum Beruf gemacht."

Worin ist er nicht gut? "Russische Oper. Ich verstehe die Sprache nicht. Meine Handschrift ist katastrophal. Ich bin ungeduldig, wenn ich mich langweile. Nur bei Proben mit dem Orchester, da habe ich eine Engelsgeduld."

TV-Porträt "Aus eigener Kraft", Arte, 5. Oktober 23.15 Uhr (Wh.)