In ihrer Sommerausstellung zeigt die Kunsthalle 200 Arbeiten von Künstlern, die von Lewis Carrolls berühmter Geschichte inspiriert wurden.

Hamburg. Übernächste Woche ist es genau 150 Jahre her: Am 4. Juli 1862 lud der damals 30 Jahre alte Mathematiker, Fotograf, Theologe und Dichter Charles Lutwidge Dodgson die drei Schwestern Charlotte, Alice und Edith Liddell zu einer Bootspartie auf der Themse ein. Damit den Kindern die Zeit nicht lang wurde, erzählte er ihnen dabei die Geschichte von einem Mädchen, das in einem Traum erstaunliche, fantastische und manchmal auch erschreckende Abenteuer erlebt, in denen Raum und Zeit außer Kraft gesetzt zu sein scheinen. Die Kinder hörten gebannt zu. Und Dodgson ließ sich beim Erfinden immer neuer Wendungen besonders von Alice Liddell anregen: Sie war es auch, die ihn bat, die Geschichte aufzuschreiben. Drei Jahre später hatte Dodgson 90 Seiten zu Papier gebracht und "Alice im Wunderland" unter dem Pseudonym Lewis Carroll veröffentlicht. Das Buch, das Carroll 1871 mit "Alice hintern den Spiegeln" fortsetzte, wurde ein Longseller, dessen Erfolg bis heute ungebrochen ist.

Ob "Alice" tatsächlich ein Kinderbuch ist, darüber lässt sich streiten; dass die fantasievolle, überraschende, philosophische, hoch literarische und zugleich sehr britisch-versponnene Geschichte Künstler aller Genres immer wieder aufs Neue fasziniert, beschäftigt und zu eigenen Arbeiten anregt, steht indes außer Zweifel. Was dabei entstanden ist, zeigt die Kunsthalle jetzt in ihrer großen Sommerausstellung "Alice im Wunderland der Kunst", die zuvor in etwas anderer Form schon in der Tate Liverpool zu sehen war, auf anderthalb Etagen in der Galerie der Gegenwart.

Gezeigt werden etwa 200 Werke, die zwar nur ein einziges Thema haben, zugleich aber 150 Jahre Kunstgeschichte repräsentieren. Am Anfang stehen Gemälde der englischen Künstlergruppe der Präraffaeliten wie John Everett Millais, der Alice im Kinderbett idealisierend, engelgleich und rein darstellte, was sich auch aus der im späten 19. Jahrhundert extrem hohen Kindersterblichkeit erklären lässt.

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Alice in Hamburg

Stilbildend waren die ersten Illustrationen, die der britische Zeichner John Tenniel lieferte. Seit er nicht nur Alice, sondern auch dem weißen Kaninchen, der Grinsekatze, dem verrückten Hutmacher und dem ganzen übrigen Personal der Geschichte Gesicht und Gestalt verlieh, führen sie alle ein künstlerisches Eigenleben. Schon früh wurde "der ,Harry Potter' des 19. Jahrhunderts", wie Ausstellungskuratorin Annabelle Görgen das Buch nannte, zum Gegenstand von Merchandising und Popularkultur, wovon Glasbilder für die Laterna magica, Holzfiguren oder Spielkarten zeugen.

Dass die Surrealisten den Stoff schnell für sich entdeckten, liegt auf der Hand, bietet er doch die Chance für Grenzüberschreitungen von Raum und Zeit, Logik und Nonsens, Individualität und Selbsterkenntnis, Traum und Wirklichkeit. Max Ernst hat sich fast sein gesamtes Künstlerleben mit "Alice" beschäftigt, in der Ausstellung ist sein verstörendes Gemälde "Alice in 1941" als Leihgabe aus dem New Yorker Museum of Modern Art zu sehen.

Thematisiert wird auch die Adaption des literarischen Stoffs als Film und Bühnenstück, vom späten 19. Jahrhundert bis hin zu aktuellen Inszenierungen. Vielleicht am spannendsten sind jedoch die Positionen gegenwärtiger Künstler, die sich auf manchmal ganz unerwartete Weise mit den Untiefen des "Alice"-Stoffs auseinandersetzen. Das betrifft vor allem einige Rauminstallationen, die zuvor nicht in Liverpool gezeigt worden sind. So stellt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist mit ihrer Installation "Das Zimmer" die Größenverhältnisse von Mensch und Raum buchstäblich auf den Kopf, sodass sich Erwachsene in diesem Zimmer unversehens auf Zwergengröße geschrumpft vorkommen.

Als das weiße Kaninchen in Lewis Carrolls berühmtem Buch fragt, wo es mit seiner Geschichte anfangen soll, antwortet der König: "Am Anfang, und dann weiter, bis du am Ende angelangt bist." Aber ein Ende, das ist dem Besucher dieser wunderbaren und an Wundern reichen Sommerausstellung schließlich klar, ist nicht in Sicht. Denn "Alice" wird ganz gewiss auch in Zukunft munter unterwegs sein: nicht nur in der Literatur, sondern auch im Wunderland der Kunst.

"Alice im Wunderland der Kunst" Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, Glockengießerwall, bis 30.9., Di-So 10.00-18.00, Do bis 21.00, Katalog 29,80, Führungen Sa 15.00, So 12.00