Das Heimspiel von Deichkind vor 10 000 Fans in der O2 World war eine großartige Electro-Party. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Hamburg. Impulsive Menschen kennen keine Grenzen, schon gar nicht beim Deichkind-Konzert am Donnerstag in der Hamburger O2 World. Da ist diese Frau, schön wie Katja Ebstein, die sich plötzlich umdreht und aussieht wie eine in der Waschmaschine eingesperrte Katze: starrer Blick, eine Mischung aus Furcht und Schicksalsergebenheit. Sie öffnet ihren Leuchtstab und schüttelt den giftigen Inhalt wild durch die Luft. Lichtpunkte stieben auseinander wie Funken beim Anstich am Hochofen.

Ein Papierhut wäre jetzt nicht schlecht. Viele der 10 000 Besucher haben einen als Schutz vor Bierschauern. Andere haben sich in mühevoller Kleinarbeit Helme in Pyramidenform und Kleider mit Tüll aus Müll gebastelt. Band und Fans im Partnerlook: "Zeig mir dein Outfit, bist du bereit für den Auftritt? Wir brauchen nicht tauschen, sehr angenehm, das hab ich auch an, o voll schön."

Dabei gibt sich Deichkind, dieses bei Konzerten anonyme Kollektiv um Philipp, Porky, Ferris MC und DJ Phono, größte Mühe, gegenüber dem siedenden Mob noch aufzufallen. Blinkende Kostüme, fahrbare Säulen, Hüpfburg, Schlauchboot und andere Gerätschaften werden in immer neuen Kombinationen hinter der Bühne hervorgeholt. Die ganze Show hat etwas von einem Hütchenspiel. Oder von einem Besuch auf dem Hamburger Dom, nachdem man sich selbstgebackene Kekse von Hippies in Grateful-Dead-Shirts geschnorrt hat. "Fahr mit mir Karussell! In eine andere Welt!"

In dieser Welt herrscht vom ersten Song "99 Bierkanister" an bis zur letzten Zugabe "Remmidemmi" der "Befehl von ganz unten" : "Wir befehlen euch, zu feiern, euch an uns zu berauschen." Bis in die letzten Reihen des Oberrangs zelebriert die Generation Raubkopie zu "Illegale Fans" und "Bück dich hoch" ein zweistündiges Sabbatical vom öden "24/7, 8 bis 8"-Job. Auf und ab wogen Arme und Oberkörper, während das Schlauchboot wie ein "Hovercraft" über schweißnasse Handflächen gleitet.

Der Feldherr General Midi alias DJ Phono schickt Beat- und Synthesizer-Truppen in die Schlacht. Dabei ist der Hallensound nicht optimal, und die entschleunigten neuen Live-Arrangements der Album-Knaller "Dicker Bauch", "23 Dohlen" und "Papillon" verpuffen. Insgesamt ist es so leise, dass sich auf Mischpult-Höhe gepflegt über den Sinn und Unsinn von Deichkind unterhalten werden kann. Wenn man nicht gerade "Arbeit nervt", "Krieg" oder "Komm schon!" mitsingt.

Der Sinn ist, impulsive Menschen mit schlichten Saufliedern wie "Roll das Fass rein" oder "Prost" anzulocken, um im Verlauf der zwei Stunden subversive Zeitkritik im Unterbewusstsein zu hinterlassen: "Bück dich hoch, komm, steiger den Profit! Bück dich hoch, sonst wirst du ausgesiebt!" Der Unsinn ist, dass auch verhaltensunauffällige Feingeister bei "Hört ihr die Signale" enormen Durst entwickeln und die Säufersolidarität beschwören: "Kein Gott, kein Staat, lieber was zu saufen!"

Die Arena erlebt entsprechend eine großartige Party am absoluten "Limit", trotz dröger Akustik. Ob dort überhaupt jemals so heftig die Federn flogen? Es regnet Daunen, es geht "nach vorne bis zum Gehtnichtmehr". Natürlich ist das alles nur "Krawall und Remmidemmi" und keine "Vorübung für eine kommende, bessere Gesellschaftsform", wie Deichkind auf Plakaten im Foyer hofft. Ein Aufstand im Schlaraffenland? Vielleicht nächstes Mal.