Seit Millionen Jahren bemüht sich der Mensch, sein Leben angenehmer zu machen, und gestaltet seine Umwelt: mit Werkzeug und Schrift bis zum Bier.

Hamburg. War es Langeweile? Neugier? Forscherdrang? Nur ein kleiner Tierknochen mit winzigen Markierungen ist vor 22.000 Jahren übrig geblieben, als ein verheerender Vulkanausbruch am Rutanzige-See im heutigen Grenzgebiet zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Uganda ein Fischerdorf verwüstete. Genau hier muss er damals gesessen haben, der Steinzeitmensch, der die Mathematik erfand.

5, 7, 11, 13, 17, 19. Was hat diesen Fischer, unseren Urahnen, damals dazu getrieben, eine Serie von Primzahlen in das Gebein zu ritzen? Jede Kerbe könnte für einen Fisch stehen. Möglich, dass er beim einfachen Rechnen auf diese Zahlen stieß, die nicht durch andere teilbar sind, möglich, dass er sie mit Bildern wie Krokodilen oder Nilpferden verband. Und möglich natürlich auch, dass alles nur ein Zufall war. Ein frühes Genie, 20 Jahrtausende vor Pythagoras, Newton oder Gauß? Auf jeden Fall einer, den seine Mitmenschen wohl für ein wenig sonderlich hielten.

"Ich stelle mir diesen Menschen als Nerd vor", sagt Hubert Filser. Einen Mann also, der heute als blasser Junge mit dicken Brillengläsern hinter einem Computer sitzen und Programme basteln würde. Filser ist vorsichtig mit Begriffen wie dem Genie. "Aber auf jeden Fall steckt ein Mensch mit besonderen Begabungen dahinter." Und das in einer Zeit, in der unsere Vorfahren in erster Linie ans Überleben denken mussten.

Der Autor Hubert Filser, 45, hat den menschgemachten Premieren der Geschichte nachgespürt. "Das erste Mal" nennt er seine Zusammenstellung von szenischen Miniaturen, ein spannendes Stück erlebbarer Geschichte, Zwischenstopps auf der kurvenreichen Piste der Menschwerdung. Vom ersten Lagerfeuer, das die Wanderer gen Norden vor 790 000 Jahren im Jordan-Tal aus den Funken von Feuersteinen entfachten, bis zum ersten Bier, das die Siedler an den Hängen des türkischen Vulkans Karacadag vor 10 000 Jahren brauten - neun Jahrtausende vor der angeblich ältesten Brauerei der Welt, Weihenstephan in Freising. Der Mensch als "Geschöpf des Feuers", wie der amerikanische Anthropologe Richard Wrangham formulierte, und das Bier als Beweis, "dass Gott den Menschen liebt und ihn glücklich sehen will", wie Benjamin Franklin schwärmte. Und für all dies gibt es einen Beginn.

Aber jedem Anfang wohnt ein Rätsel inne. Meist waren es die äußeren Umstände, die unsere Vorfahren zu ihren Erfindungen und Entdeckungen trieben. "Die Menschheitsgeschichte kann man wie eine Folie betrachten, die man übereinander legt", sagt Filser - und findet uns moderne Menschen. "Die Kernthemen sind uralt: Wir wollen überleben und uns fortpflanzen. Diese Basisnotwendigkeiten sind für uns selbstverständlich, in Afrika und einigen Ländern Asiens und Südamerikas ist der Kampf ums Überleben immer noch Alltag." Der Mensch hat immer versucht, sich an seine Umgebung anzupassen. "Die Entwicklung zum aufrechten Gang fand statt, als vor acht Millionen Jahren erstmals Jahreszeiten auftraten", weiß Filser. "Mal gab es Früchte und Knollen, mal nicht. Und mit den Wanderbewegungen kam der Motor der Evolution erst richtig in Gang."

Am Tschadsee in Afrika richtete sich der Urmensch auf, weil ihm das als Tier unter Tieren entscheidende Vorteile bot. Die Beine wurden länger, die Arme kürzer, das Knochengerüst passte sich dem Ausdauerläufer an. Vor 2,6 Millionen Jahren bastelte er die ersten Werkzeuge, vor 1,9 Millionen Jahren wanderte er aus dem heutigen Kenia Richtung Norden, nach Asien und Europa. Und vor 1,6 Millionen Jahren, als er mit der Jagd begann, legte er sein Fell ab. Weil er im kalten Europa überleben musste, begann er vor 77 000 Jahren statt der üblichen Tierfelle selbst hergestellte Kleidungsstücke zu entwerfen.

Und plötzlich spielte der Spaßfaktor eine Rolle. Je näher wir an das Heute rücken, je mehr sich das alltägliche Leben vereinfachte, um so mehr probierten die Menschen aus. "Mit zunehmender Gehirnleistung wuchs die Aufmerksamkeit, gepaart mit Neugier und Spieltrieb", sagt Filser. "Irgendwie versuchten unsere Vorfahren, Spaß zu haben."

Manchmal kamen dann beim Herumprobieren überraschende Dinge heraus. Warum bastelt ein Clan in der südafrikanischen Blombos-Höhle vor 77 000 Jahren den ersten Schmuck? Aus Schneckenschalen, die sie mit Knochenspitzen durchbohrten, fertigten sie eine Kette und bemalten die Gehäuse mit Pigmentfarben. Warum schnitzen die Menschen 40 000 Jahre später in ihren Höhlen in der Eiszeitlandschaft der Schwäbischen Alb aus Elfenbein Figuren vom Mammut bis hin zur üppigen Venus? Warum malen altsteinzeitliche Künstler vor 35 000 Jahren in der Höhle von Chauvet in Südfrankreich mehr als 400 Wandbilder mit extrem harmonischen Darstellungen wilder Löwen, Nashörner, Pferde und Bären, die der Regisseur Werner Herzog in seinem Dokumentarfilm "Höhle der vergessenen Träume" verewigte? Picasso fand nach einem Besuch der etwas jüngeren Höhlenmalereien in Lascaux, wir hätten bisher "nichts dazugelernt".

Und dann gab es da jenen Mann, der seinen Mitbewohnern vor gut 40 000 Jahren auf der Schwäbischen Alb die Flötentöne beibrachte. In der Höhle Hohle Fels stellte er mithilfe einer Feuersteinklinge aus der Speiche eines Gänsegeierflügels eine Flöte her - das erste Musikinstrument, knapp 22 Zentimeter lang und das Resultat von 50 Arbeitsstunden. Hatten unsere Vorfahren im Überlebenskampf überhaupt soviel Zeit zum Grübeln und Forschen? Die frühen Menschen mussten ein paar Stunden am Tag nach Nahrung suchen. Nur wenn sie keine fanden, hatten sie ein Problem. Also Zeit zur Muße.

"Musik oder Kunst brauchte man zum Überleben nicht unbedingt", räumt Hubert Filser ein. "Aber beides hat neben dem Spaßfaktor auch eine zweite Ebene: es bringt Gruppen zusammen, schafft Kommunikation und stiftet Identität." Die Gemeinschaft wurde stärker. Rituale, Tänze und Feste schweißten die Clans zusammen.

Vor 25 000 Jahren wollte der Mensch dann nicht mehr allein sein. Als erstes Wildtier domestizierte er den Wolf, lange vor Rind, Schaf und Ziege. In einer Höhle in Südfrankreich findet man gemeinsame Spuren von einem Jungen und seinem Hund. Der Wolf war in der Eiszeit kein Nutztier, sondern "Wohlfühlbegleiter", offensichtlich ein sehr wichtiger Gefährte. Zumal in der Kälte als lebendes Kuscheltier. Noch heute schlafen Hunde im Bett des Menschen. Neue Studien ergeben, dass alle heutigen Hunde von maximal zwei Dutzend Wölfen abstammen - als Ausgangspunkt gilt China. Der Wolfsforscher Erik Zimen vermutete allerdings, "die Wölfe haben von sich aus die Gemeinschaft der Menschen gesucht".

Der Mensch hat sich nicht nur Vergnügen ausgedacht wie den Sport, die ersten Olympischen Spiele vor 2800 Jahren. Oder die pedantische Ordnung der ersten Beamten vor 5500 Jahren in Mesopotamien, von denen man sich vorstellt, sie hätten schon damals die Lehmtafeln der Bauern abgeheftet. Aber in jeder Geschichte steckt auch immer ein Tatort. Vor 400 000 Jahren wurden im niedersächsischen Schöningen die ersten Mordwaffen gebastelt, vor 27 000 Jahren entstand in einer französischen Höhle die erste Darstellung eines getöteten Menschen, in dessen Brust ein Pfeil steckt. Vor 7300 Jahren wurden im süddeutschen Talheim 34 Männer erschlagen, das erste dokumentierte Massaker. Und vor 6000 Jahren metzelten sich Menschen im ersten Angriffskrieg im Norden Syriens nieder. Das Gewalttätige scheint im Menschen angelegt. Na klar, sagt Filser, "wir sind auch nicht anders als Tiere, nur eine besondere Art, die ihre Fähigkeiten weiterentwickelt hat. Solange es Menschen gibt, haben sie sich attackiert. Irgendwann wurden dann eben Waffen gebaut, die nur einen Zweck hatten: jemanden umzubringen." Das erste Mordwerkzeug war ein Schwert als Fortentwicklung des Messers. "Mit einem Schwert schneidet man kein Gemüse."

Not macht erfinderisch, sagt das Sprichwort. Falsch, meint Hubert Filser: "Stabile Verhältnisse wie ein geeignetes Klima waren viel besser geeignet, etwas Neues auszuprobieren, als der Mangel. In guten Zeiten wurden Fehler weniger hart bestraft." Als besonders anregend stellten sich die Begegnungen verschiedener Menschenarten heraus. Etwa vor 40 000 Jahren, als sich Mensch und Neandertaler auf der Schwäbischen Alb trafen, muss es zum anregenden Austausch mit etwas Neuem gekommen sein. "Die Begegnungen haben natürlich auch Konflikte hervorgerufen, aber der Ideenaustausch war inspirierend." Der Umgang mit Fremden - ein zeitloses Thema.

Diese ganzen Anfänge tragen zu dem bei, was uns als moderne Menschen ausmacht. "Der Mensch ist und bleibt ein neugieriges Wesen", sagt Filser. "Wir brauchen eine Balance zwischen Struktur und Veränderung. Von unseren Möglichkeiten her sind wir einem Steinzeitmenschen von vor 40.000 Jahren sehr ähnlich. " Die Entwicklungen vollziehen sich in immer kürzeren Abständen. Der Mensch gestaltet die Natur. Ob aber das Internet die große Veränderung der Neuzeit sein wird, ist nach Filsers Meinung noch nicht entschieden: "Das Internet hat jenseits aller technischen Entwicklungen eine gesellschaftliche Komponente, die den Menschen prägen wird: das Gefühl der Gleichzeitigkeit, das Gefühl, mit jedem jederzeit in Verbindung zu sein. Wie lange und in welcher Form es so bleiben wird, wissen wir nicht. Denn noch ist es sehr fragil und verbraucht viel Energie."

Die Möglichkeiten scheinen uns glauben zu lassen, es gebe keine Grenzen. Und doch: "Wir bleiben den Bedingungen der Natur unterworfen, was das Klima betrifft oder die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln. Wir beobachten extreme Wetterphänomene, Stürme nehmen zu. Sollte sich die Geschwindigkeit der Veränderungen noch einmal deutlich steigern, kann die Menschheit schon in eine ziemliche Krise hineinrutschen." Und dann wird es notwendig sein, dass wir uns wieder anpassen.

Hubert Filser: "Das erste Mal". Ullstein, 336 Seiten, 18 Euro