Sex ist längst kein Tabubruch mehr; wirkliche Skandale finden außerhalb der Museen statt. Allzu explizite Bilder lösen keine Tumulte aus.

Hamburg. Wie anständig muss Kunst sein? Oder umgekehrt: Wie künstlerisch müssen als "unanständig" geltende Bilder sein, um als "Kunst" bestehen zu dürfen? Ein amerikanischer Richter hat die Frage, wann Kunst Pornografie sei, einmal völlig unjuristisch und verständlich beantwortet: "Ich weiß es, wenn ich es sehe."

"Pop Life" heißt die Ausstellung, die derzeit in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle, toll aufgemacht, moderne Kunstwerke präsentiert. Mit "poppen" allerdings, der lustigen Umschreibung dessen, was im Bürgerlichen Gesetzbuch Beischlaf und in der Umgangssprache meist recht krass bezeichnet wird, hat diese Ausstellung kaum etwas zu tun.



Ein wenig aber doch. Neben den knallbunten Figuren von Takashi Murakami, den Fotos von Warhol, den Bildern von Martin Kippenberger oder den lustigen Männchen und Tieren von Keith Haring finden sich, abseits in einem Raum, der dezent von einem schwarzen Vorhang verhüllt und mit einem Schild "Zutritt nur für Besucher über 18 Jahre" versehen ist, drei riesige Fotos von Jeff Koons. Sie zeigen den Künstler und seine damalige EhefrauCicciolina, Porno-Sternchen und Abgeordnete des italienischen Parlaments (Berlusconi hatte dabei seine Finger noch nicht im Spiel), beim Sex. Hardcore. Ausschnittartig.

"Reduziert auf die Geschlechtsorgane" wäre hier eine falsche Beschreibung. Denn in Wahrheit sind sie stark vergrößert. Schönheit sieht anders aus. Pornografie auch, denn sie soll den Betrachter sexuell erregen. Die wenigen Menschen, die vormittags die mit fröhlichen Schulklassen und vielen Interessierten gut besuchten Ausstellungsräume verlassen und den verhüllten Raum betreten, murmeln rasch "Das ist nichts für mich" oder gackern "Na, so was". Die Hamburger, weltweit berühmt für ihre Reeperbahn, sehen das offenbar entspannt. 15 000 Besucher haben die Ausstellung in den ersten sechs Tagen besucht. Beschwerden über die expliziten Bilder sind bei der Kunsthallen-Leitung keine angekommen.

Koons hatte 1991, als diese Bilder entstanden, gekonnt sich und seine Frau als Pop-Stars verkauft, als modernes Adam- und Eva-Paar, das alle Scham abstreift und Träume wahr werden lässt. Träume von exzessivem Sex, die die Betrachter und Käufer solcher Bilder, moderne sensationshungrige Menschen, auch haben, die sie aber nur heimlich ausleben. Etwa als Familienväter, die noch einen Kindersitz hinten im Auto haben, durch St. Georg fahren und minderjährige Prostituierte suchen. Wenn das nicht "voll porno" ist - und der eigentliche Skandal.

Wer wollte sich da über Pornografie in der Kunst aufregen? Annie Sprinkle, eine Performance-Künstlerin, lässt sich seit den 70er-Jahren in jede Körperöffnung gucken, Fotos von Robert Mapplethorpe huldigen großformatig dem Penis, Catherine Millet hat in ihrem Roman "Das sexuelle Leben der Catherine M." ihre Sex-Begegnungen mit 5000 Männern beschrieben. Ihr französischer Landsmann, der Autor Michel Houllebecq, hat sich in "Ausweitung der Kampfzone" oder "Plattform" dem Sadomasochismus zugewandt, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Jeder Mensch mit Internetzugang kann inzwischen alle nur denkbaren sexuellen Handlungen betrachten, und "Porn-Chic", also Nuttenkleidung, gilt als trendy. Mehr als 75 Milliarden Euro soll die Porno-Industrie weltweit jährlich umsetzen. Die Museen profitieren allerdings nicht davon.

Pornografie gehört zur Kunst, wie man auf alten griechischen Trinkgefäßen - Vorsicht mit der Tülle! - ebenso sehen kann wie bei einem Gang durch Pompeji. Dort misst auf einer Wandmalerei ein Mann mit einer Waage seinen Penis und muss viele Gegengewichte drauflegen, so mächtig ist das Teil. Als Gustave Courbet 1866 einen halb geöffneten weiblichen Schoß auf die Leinwand bannte (Titel: "Der Ursprung der Welt"), damit einen Skandal auslöste und das Gemälde fast hundert Jahre hinter anderen Bildern versteckt werden musste, galt Sex in der Kunst noch lange als größter Tabu-Brecher.

Heute heißt die nackte Wahrheit höchstens noch: Sex sells. Partnertausch, Peepshow und Pornogucken sind in Wahrheit nur noch was für langweilige Spießer. Der Rest des bürgerlichen Publikums huldigt längst dem neuen Zeitgeist. Und der heißt: Prüderie. Wenn das so ist, gehört Pornografie wirklich ins Museum.