Das Filmfest in der Hauptstadt feiert seinen 60. Geburtstag. Erinnerungen an Stars, Filme, Skandale und die Berlinale im Sommer.

Hamburg. Aufgewachsen bin ich in Berlin. Und schon als Schülerin zur Berlinale gegangen. Ein Nachbar von uns, Redakteur beim SFB, bekam damals Karten für alle Vorstellungen, wollte aber nur selten ins Kino. Und wenn, dann in die Groß-Produktionen. Die restlichen Karten schenkte er mir. So kam es, dass ich alle ungewöhnlichen Filme sah, damals, als das Filmfestival noch im Sommer stattfand, im kühlen Kino sitzend, mit Eis und fern von Hausaufgaben.

Meine Mutter, auch Berlinerin, hatte mir meine ganze Kindheit lang vom glamourösen Vorkriegs-Berlin vorgeschwärmt, von Kaufhäusern, in denen es Saftspringbrunnen gab - für ein Kind eine geradezu paradiesische Vorstellung -, von Abenden in Kabaretts, Literatencafés, von glamourösen Filmstars und fesselnden Schauspielern. Nichts davon fand sie wieder im Berlin der 60er- und 70er-Jahre. Es sei denn, es war Berlinale-Zeit. Da fuhren aufregende Frauen in Abendkleidern neben gut aussehenden Männern in Cabriolets über den Ku'damm, man konnte turbulente Premieren besuchen, und die Zeitungen waren voll von Fotos internationaler Stars wie Henry Fonda, Billy Wilder, Shirley MacLaine oder Alfred Hitchcock. Im ärmlichen, teils noch ausgebombten, teils hässlich wieder aufgebauten Berlin war das für viele Menschen Labsal, Erinnerung an eine aufregende Vergangenheit und Hoffnung auf eine vielleicht wieder aufregende Zukunft. Dass 1952 ein Film mit einer Nacktszene den Goldenen Bären gewonnen hatte ("Sie tanzten nur einen Sommer" von Arne Mattson, im selben Jahr, in dem Akira Kurosawas Meisterwerk "Rashomon" nicht beachtet worden war), dass Kurvenstar Jayne Mansfield 1961 das Kleid geplatzt war, dass Hildegard Knef oder Romy Schneider für beängstigende Massenaufläufe sorgten, so etwas wurde noch Jahre später kolportiert.

Meine erste Berlinale besuchte ich 1970. Es war das außerordentlichste Jahr dieses Festivals, das dieser Tage zum 60. Mal stattfindet. Die Berlinale wurde 1970 nämlich mittendrin abgebrochen. Grund war Michael Verhoevens Film "o.k.". Deutlich erkennbar in einem deutschen Tannenwald gedreht, erzählte er von der Vergewaltigung und Ermordung eines vietnamesischen Mädchens durch amerikanische Soldaten. Die junge Eva Mattes rannte darin nackt durch den Wald. Ich war ergriffen. Die Jury der Berlinale unter Vorsitz des US-Regisseurs George Stevens beklagte Antiamerikanismus, wollte den Film aus dem Wettbewerb nehmen, setzte sich mit Protestkundgebungen und dem Zensurvorwurf auseinander und trat zurück. Die Berlinale war beendet. Ähnlichen Aufruhr rief nur noch der Film des Fassbinder-Schülers Ulli Lommel, "Die Zärtlichkeit der Wölfe", 1973 hervor, der den Massenmörder Haarmann von Kurt Raab entgegen der historischen Vorlage als blutrünstiges, homosexuelles Monster hatte darstellen lassen. Die Szene tobte. 1976 wurde Nagisa Oshimas "Im Reich der Sinne" wegen Pornografie von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt.1986 musste die Berliner Polizei komplett ausrücken, weil Reinhard Hauffs Film "Stammheim" Anlass zu Straßenkämpfen und Morddrohungen gegen die Jury gegeben hatte.

2001 gab's Krach in der Jury, weil im Berlinale-Beitrag "Intimacy" ein erigierter Penis zu sehen war. Trotzdem, die Berlinale im alten West-Berlin war eher eine familiäre Veranstaltung. Man schaute Filme im Zoo-Palast, ging zur offiziellen Feier ins Hilton-Hotel und ließ die Nacht aus- und den Tag anklingen in der Paris-Bar. Alles zu Fuß innerhalb eines Kilometers erreichbar. Heute dagegen verläuft sich alles bis weit in den - angeblich so coolen - Osten und verkleckert sich ein wenig im Westen. Ein halbes Dutzend Partys, die man pro Nacht erreichen sollte, damit man dabei war, das ist Pistenrennen pur statt feiern. Es sei denn, man sitzt die Berlinale durch im Borchardt. Da kommen sie alle irgendwann mal vorbei.

980 konnte man mit Robert De Niro lustig in der Paris-Bar sitzen. Im Jahr zuvor hatte Fassbinder "Die Ehe der Maria Braun" im Wettbewerb. Nach der Vorführung wurde in einem Lokal in einer Seitenstraße des Ku'damms gefeiert, das ein Fass als Tür hatte. Der Kult-Regisseur trug eine Hose, die er offenbar schon lange nicht mehr ausgezogen hatte, nebst dünnhaarigem Bart, fettigen Haaren und fassartigem Bauch. Er wurde umschwärmt, auch von Menschen, die nicht so viel Aufheiterndes konsumiert hatten wie wir. 1981 belehrte mich Mel Brooks nach irgendeinem Film einen ganzen Abend lang, dass ich bei jedem Wein, den ich bestelle, unbedingt auf das Zeichen "appellation controlée" achten muss. Lauter einzigartige Erinnerungen. Bis auf eine. Den Abend mit George Clooney 2003, an dem ich neben ihm hätte sitzen können, den habe ich leider versäumt, weil ich jemandem versprochen hatte, ich würde rechtzeitig zurück nach Hamburg kommen. Darüber trauere ich heute noch.