In Berlin wird er 19 Meter lang sein - das leuchtende Textil, auf dem die Stars vor allem Star sein sollen: Karolin Jacquemain über den Zauber des roten Teppichs.

Eigentlich ist es nicht schwer. Einen Fuß vor den anderen setzen. Lächeln. Winken. Ein bisschen nett aussehen. Und doch kann so manches schiefgehen auf dem roten Teppich, dem krisenfesten Laufsteg der Eitelkeiten, auf den von Donnerstag an die ganze Welt blickt, zehn Tage lang. Die Fotos auf den letzten Metern zum Berlinale-Palast werden millionenfach gedruckt, hochglanzüberzogen und großformatig - da können die Filme noch so beeindruckend sein, die Ansprachen noch so ergreifend, die Pressekonferenzen noch so kontrovers.

Auf dem roten Stück Stoff sind die Geschichten der Berlinale zu Hause, die man sich bis heute erzählt. Wie jene, als Festivaldirektor Dieter Kosslick mutterseelenallein auf dem Teppich stand; Wärme versprach allenfalls sein gleichfarbiger Kaschmirschal. Keine Nicole Kidman, kein Jude Law, nur der Regisseur Anthony Minghella war am 5. Februar 2004 zum Eröffnungsfilm "Unterwegs nach Cold Mountain" angereist. "Das war mehr toter Teppich als roter Teppich", erinnert sich Kosslick.

Hier trotzte aber auch George Clooney den Berliner Minustemperaturen und nahm sich eine volle Stunde Zeit für die Autogrammwünsche seiner Fans. Die Chinesin Bai Ling kennt man seit ihrem Teppichgang als "Berlinackte". Zwei Jahre ist es her, dass der Auftritt der Rolling Stones am Nachmittag zu platzen drohte, sie aber wenig später Seite an Seite mit dem glücklichen Festivaldirektor standen: Mick Jagger und Keith Richards, Ron Wood und Charlie Watts - eine Popveranstaltung der Extraklasse. Martin Scorseses Film hat am Ende weniger interessiert.

Ein international bedeutender Filmwettbewerb, ein sogenanntes A-Festival, kommt um den leuchtend roten Läufer nicht herum. "Rote Teppiche sieht man besser", dichtet Festivalchef Kosslick in Anlehnung an Rolf Schübels Fernsehfilm "Rote Fahnen sieht man besser" - und meint natürlich nicht das rund 19 Meter lange, vier Meter breite Stück Stoff auf dem Potsdamer Platz, sondern die (Über-)Menschen, die ihn beschreiten. Die raren Stars und vielen Sternchen. Nicht zu vergessen jene Künstler, die hier zu ihren wohlverdienten 15 Minuten Ruhm kommen.

Der rote Teppich ist kein Bereich für Sterbliche. Er ist im selben Sinne "bigger than life", wie es das Kino in seinen besten Momenten immer schon war - und vielleicht ist es dieser Hauch des Irrealen, der die Menschen, die auf ihm stehen, strahlender erscheinen lässt als an jedem anderen Ort dieser Welt. Hier wird der schöne Schein der Äußerlichkeiten zelebriert; Hunderte hinter den flankierenden Absperrgittern können sich ein paar Minuten lang der Illusion von Nähe hingeben. Je komplizierter unsere Zeiten werden, desto mehr sehnt man sich nach Einfachheit: Wer ist drinnen, wer draußen? Auf diese Frage läuft es oft hinaus im Leben. Niemand macht diesen Unterschied so offensichtlich wie der rote Teppich. In Signalfarbe, mit Ausrufezeichen. Rot ist er nicht zufällig: Purpurrot war bereits in altrömischen Zeiten die Farbe der Edlen. Der Maler Kandinsky fühlte sich bei der Farbe Rot an den Klang von Trompeten erinnert.

Die Geschichte des roten Teppichs beginnt im Mittelalter. Wichtigen Gästen ließen Monarchen einen Teppich vor die Füße legen, um ihnen zu zeigen, dass sie willkommen waren. Die Krönung von Königin Viktoria 1837 gilt als jenes Ereignis, das den Teppich endgültig als Bestandteil des Staatszeremoniells etablierte. In aller Welt gilt die Bereithaltung des roten Textils als Ausdruck besonderer Wertschätzung. Bei Staatsbesuchen, Galas, mittlerweile aber auch vor Autohäusern ist er selbstverständlicher Bestandteil des Begrüßungsrituals.

In den Berlinale-Anfängen ab 1951 hielt das Festival noch keine roten Teppiche bereit; die Willkommensparade sah vor, dass die Stars, hupend und winkend, in ihren Cabrios am Kurfürstendamm vorfuhren: Joan Fontaine und Billy Wilder, Gary Cooper, Sophia Loren und Gina Lollobrigida.

Heute gibt es beim Show-Lauf zwar Bodyguards mit Knopf im Ohr und Fotografenhorden, die immer noch größere Teleobjektive an ihre Kameras schrauben; man hört die aufgeregte Lautsprecherstimme des Prominentenansagers und sieht die Live-Projektion des Galagastes auf den Leinwänden neben dem Festivalpalast - das Prinzip aber ist das gleiche geblieben: Jagdszenen in Berlin. Jedes Jahr das gleiche Schauspiel, nur mit anderen Hauptdarstellern. Eine Hochzeitsgesellschaft aus Glamour, Größenwahn und Popkultur. Und alle tun so, als ginge es einzig um die Kunst - dabei zählt die Pose, der richtige Augenblick, das Foto des Abends.

In Cannes schreiten die Prominenten eine breite Treppe hinauf zum Festivalpalast, auch auf dem Filmfestival Venedig geht es aufwärts in den Kino-Olymp. Am Potsdamer Platz läuft man eine flache Rampe hinunter zu dem von Architekt Renzo Piano erbauten Berlinale-Palast, der 1600 Leute fasst und sonst Musicalaufführungen beherbergt. Das sage womöglich viel über die Berlinale aus, meint Kosslick, über "die gesellschaftspolitische Auffassung der Stadt": In Berlin ist man auf Augenhöhe - auch mit den Stars.

Die Berlinale ist das größte Publikumsfestival der Welt, jedes Jahr verkündet sie neue Besucherrekorde. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Kino sich nicht zurückzieht in den berühmten Elfenbeinturm, sondern hingeht zu den Menschen in der Stadt. Die Berlinale ist kein Spaßfestival, sondern ein ernstes Winterkind. Sie hat sich mit (gesellschafts)politischen Filmen profiliert und - seit Dieter Kosslick 2002 das Ruder übernommen hat - dem deutschen Film wieder zu internationaler Anerkennung verholfen. Berlin hat, anders als Cannes und Venedig, keinen Strand und keine Meerespromenade, an denen man flanieren und sich vom Kino erholen kann. Umso wichtiger ein Ort der Leichtigkeit. Ein Ort, an dem der Sirenengesang der Berühmtheit ungestört erklingen kann. Dass dies einmal der rote Teppich am Potsdamer Platz werden sollte, McDonald's- und Starbucks-Filialen im Rücken, hätte man auch nicht gedacht. Mit dem nötigen Willen zum Pomp und den richtigen Stars ist jedoch vieles möglich.

Ein roter Teppich entscheidet nicht über Erfolg und Misserfolg eines Films, vielleicht aber über den Marktwert und das Image der dort entlangstolzierenden Personen. Geben und Nehmen heißt das Prinzip. Ein durchgedrückter Rücken und ein Zahnpastalächeln gegen eine Titelseite mit Auflagenstärke. Ein Teppichhandel, wenn man so will. In diesem Jahr heißen die wichtigsten Protagonisten Renée Zellweger, Jessica Alba, Ewan McGregor, Ben Stiller, Gérard Depardieu, Shah Rukh Khan und Leonardo DiCaprio. 180 Gäste werden über den Teppich zum Berlinale-Palast laufen, für allabendliches Starspotting ist also gesorgt. The show must go on - immer wieder, immer spektakulärer.

Kino setzt sich zusammen aus Handwerk, Technik und Kunst. Kino ist aber auch ein Stück Irrationalität und Glücksversprechen. Eine Sache des Glaubens und nicht der kalten Vernunft. Der rote Teppich ist die ideale Pforte, diese Welt zu betreten.