Die weißen Fassaden am noblen Leinpfad und die dunklen Ecken im Hafen sind der Hintergrund für einen erbittert ausgetragenen Vater-Sohn-Konflikt.

Hamburg. Verena Fischer-Zernin über einen satirischen Steuer-Krimi mitten in Hamburgs feiner Gesellschaft.

Ein Fest in einer Villa am vornehmen Leinpfad geht seinem Ende zu. Der Gastgeber schwänzt die Verabschiedung seiner Besucher und verzieht sich in den Garten. Er ist so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt, wie aus dem Alsterarm plötzlich zwei Gestalten auftauchen. Zigaretten hätten sie zu verkaufen, flüstern sie. Dann stoßen sie ihm ein Messer in den Rücken und verschwinden.

Allem Anschein nach handelt es sich um einen Racheakt der vietnamesischen Zigarettenmafia an Jon Claas, dem Hamburger Oberfinanzpräsidenten. Die Szene ist der Dreh- und Angelpunkt von Michael Degens Wirtschaftskrimi "Der Steuerhinterzieher", in dem der Schauspieler und Autor seiner Empörung über den Zustand unseres Staatswesens Luft macht. Der Roman geißelt nicht nur die ins Absurde wuchernden Steuerbestimmungen und die seelenlose Buchstabentreue der öffentlichen Verwaltung, er nimmt auch das nicht immer gesetzeskonforme Gebaren hoher Beamter und ihrer Geschäftspartner aufs Korn.

"Der Steuerhinterzieher" ist Degens drittes Buch. 1932 als Sohn jüdischer Eltern geboren, wurde Degen früh zum Opfer nationalsozialistischer Verfolgung: Sein Vater wurde ins KZ verschleppt und starb 1940 an den Folgen erlittener Folter. Degen und seine Mutter überstanden den Holocaust, indem sie ihre jüdische Identität verleugneten und unter falschem Namen in Berlin untertauchten. Eine Unterkunft hatten sie oft nicht; stundenlang liefen sie nachts auf der Suche nach einer Schlafstätte durch die Stadt. Und als 1945 die russischen Befreier auftauchten, musste Degen, gerade dreizehn Jahre alt, mit ihnen Wodka trinken bis zur Ohnmacht.

Nach dem Krieg gehörte er Bertolt Brechts Ensemble am Deutschen Theater in Berlin an. Auf der Bühne und vor der Kamera hat er mit so illustren Regisseuren wie Peter Zadek, Ingmar Bergman und George Tabori zusammengearbeitet. Als Autor ist Degen vor allem mit dem Bestseller "Nicht alle waren Mörder" hervorgetreten, in dem er seine Kindheit im Dritten Reich verarbeitet hat und der von der ARD verfilmt worden ist. Diese Erfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch sein filmisches Werk und seine Bücher, aber die Neugier auf das Leben hat er sich bewahrt. Heute lebt Degen in Hamburg, der Stadt, die ihm als Kulisse für seinen Wirtschaftskrimi dient.

Jon Claas hat bei dem Mordversuch zwar keine Querschnittlähmung davongetragen, den Rest des Buchs verbringt er aber im Rollstuhl und auf Krücken. Bei seinem Sohn Morten, der Hauptfigur des Romans, setzt der Anschlag einiges in Gang: Er, der seit dem frühen Krebstod seiner Mutter geschwiegen hat, beginnt wieder zu sprechen. Und er beschließt, die Täter zu stellen.

Dazu verschreibt er sich dem Steuerrecht und tritt in die Fußstapfen seines Vaters. Dabei gibt das Verhältnis zwischen Vater und Sohn so viel kindliche Solidarität eigentlich gar nicht her. Vor lauter Arbeit hat der Vater einst vergessen, die Mutter zu heiraten. Nach dem Tode der Mutter nannte er seinen Sohn kurzerhand von "Maximilian Pippig" in "Morten Claas" um. Und noch manches andere hat Morten seinem beherrscht-kühlen Vater vorzuwerfen. Zwischen den beiden herrschen Misstrauen und zunehmend Konkurrenz.

Zunächst scheint sich alles plangemäß zu fügen. Morten legt eine rasante Karriere in der Finanzverwaltung hin. Um die Vietnamesen aus der Reserve zu locken, lässt er selbst Billigzigaretten auf den grauen Markt bringen. Als allerdings seine Helfer mit schwarz lackierten Hockeyschlägern fast zu Brei geschlagen werden, ist weit und breit kein Polizist zu sehen; zwei Männer sterben bei dem Überfall. Morten begreift, dass die staatlichen Stellen ihre eigenen Fäden ziehen. Er quittiert den Dienst und wird Steuerberater.

Das kommt einer Kriegserklärung an den Vater gleich. Fortan nutzt Morten die Schlupflöcher, die er zuvor mit Verve stopfte, zugunsten seiner Mandanten. Dabei dreht er ein Rad, das größer ist, als ihm selbst klar zu sein scheint; er nimmt Schecks in abenteuerlicher Höhe entgegen, ohne sie zu deklarieren, und verhandelt hart nach mehreren Seiten. Je tiefer er sich in die rechtliche Grauzone begibt, desto mehr kommt ihm der Überblick abhanden, sachlich wie moralisch. Da erstaunt es nicht, dass er schließlich einem Trick seines Vaters aufsitzt, der ihn geradewegs ins Gefängnis bringt.

Degen erzählt wie in Filmsequenzen. Seine Bilder reiht er lose aneinander, die Erzählperspektive wechselt nach Bedarf. Auch abseits der Haupthandlung gibt es einiges zu sehen: In einem Mausoleum auf dem Ohlsdorfer Friedhof etwa findet eine schreiend komische weihnachtliche Verbrüderung statt.

Für die breit angelegte Handlung fährt Degen ein satirisch anmutendes Panoptikum an Figuren auf. Claas senior ist der Prototyp des brillanten, undurchschaubaren Wirtschaftsmenschen. Morten selbst, eigenwillig, charismatisch und offenkundig hochbegabt, hat wundersamerweise Freunde, die genau die richtigen Eigenschaften und Verbindungen mitbringen: Da sind der türkische Lehrer und der Wirtschaftsjournalist, der ehemalige Friedhofsgärtner und drei Obdachlose: gestandene Trinker, slapstickkomisch und mit allen Wassern des Straßendaseins gewaschen.

Wer nun die Guten und wer die Bösen sind - das zu entscheiden überlässt dieses engagierte Buch kommentarlos dem Leser. Womöglich hat jeder der Beteiligten seine nachtschwarzen Eigeninteressen. Wie im echten Leben.