Hamburg ist die letzte Station derer, die zu Abertausenden Europa den Rücken kehren, weil sie sich in Amerika ein besseres Leben erhoffen. Klaus Witzeling über einen Roman, der auch Hamburgs dunkle Seiten zeigt: 1892 wütet die Cholera in der Stadt.

Hamburg. Besucher werden in Hamburg von ihren Gastgebern gern in eines der Ausflugscafés am Elbufer, in Övelgönne oder Teufelsbrück, geführt, um den Schiffsverkehr auf der Elbe zu beobachten." Bei allen Veränderungen über die Jahrzehnte hinweg scheint einiges doch gleich geblieben zu sein. Denn Gerd Fuchs erzählt in seinem Roman "Die Auswanderer" vom Hamburg des Jahres 1892.

Damals pflügte noch kein Containergigant das Wasser, sondern der Menschenfrachter "Saxonia": Der Hapag-Dampfer wird von zwei bulligen Bugsierern den Fluss hinaufgeschleppt. Er kehrt von der Reise nach New York zurück, wo er Europa-Flüchtlinge auf Ellis Island abgesetzt hat. Nach dem Löschen der Fracht wird das Schiff wieder 600 Passagiere an Bord nehmen. Einige von ihnen begleitet der Ich-Erzähler und Hapag-Werber Igor Tatlin auf der "Flucht" , dem "Lang Lebewohl" und auf der Fahrt "Zwischen den Kontinenten".

In diese drei Etappen hat Autor Gerd Fuchs den Roman gegliedert, in denen sich unterschiedliche Schicksale und Geschichten zu einem farbigen Panorama aus historischen Fakten und Fiktion über die Zeit fügen, in der Millionen Menschen den Alten Kontinent verlassen haben: aus Not, aber nicht ohne Hoffnung.

Sein Haus konnte Simon Kantor nicht mehr verkaufen. Der russische Uhrmacher verpfändete es beim Menschenfänger und Überlebenskünstler Tatlin gegen eine Schiffspassage nach Amerika: für sich, seine Frau Ruth und den neun Jahre alten Sohn Daniel. Noch länger zu bleiben, hätte für sie den Tod bedeutet. Denn Mord an Juden war nun erlaubt.

Mit einem Karren verlässt die Familie das russische Städtchen, entkommt im letzten Moment den Verfolgern auf den Zug, der sie über die ostpreußische Grenzstation Eydtkuhnen nach Berlin und Hamburg bringt. Dort treffen die Kantors in den Auswanderer-Unterkünften auf den jungen Arzt Albert Werth aus begütertem jüdischen Hamburger Haus, den Werftarbeitersohn Klaus Groth, den Edelsteinhändler Benz, Alma Laufer, eine Missionschwester in der Glaubenskrise und die durchgebrannte Ehefrau Ebel.

Alle - auch Tatlin, der mit gefälschten Pässen Soldaten zur Desertion nach Amerika verholfen hat - sind irgendwie auf der Flucht: vor Pogromen, vor der Polizei, vor Verfolgern oder unerträglichen Lebensumständen. Und vor sich selbst. Trotz aller Ängste und Zweifel sind sie bereit, ihre Heimat aufzugeben, um in der Fremde eine neue zu finden. "Alle Figuren werden aus einer relativen Sicherheit in große Unsicherheit ins Neue gestoßen", beschreibt Gerd Fuchs ein Grundthema seiner Bücher.

In sechs Romanen wirft er Fragen der Familie ("Schussfahrt"), der Gesellschaft und deutschen Geschichte ("Beringer oder die lange Wut", "Stunde Null", "Schinderhannes") auf. Er gräbt mit akribischer Recherche nach und versucht den Problemen auf den Grund zu gehen, charakterisierte Schriftsteller-Kollege Uwe Timm seinen Freund in der Laudatio zum Italo-Svevo-Preis 2007 respektvoll und zutreffend.

Ein Besuch Mitte der 90er-Jahre im Auswanderer-Museum von Ellis Island, wo die Immigranten aus Europa ankamen, brachte Fuchs auf das Thema, das ihn nicht mehr losließ. "In vielen meiner Bücher wird mit dem Thema der Auswanderung gespielt: Amerika ist nun mal eine riesige Projektionsfläche für uns Europäer."

Doch vor der großen Fahrt lässt Fuchs "Die Auswanderer" noch Hamburg entdecken. Aus ihrer Sicht fügt er ein lebhaftes Mosaik aus gegensätzlichen Bildern der Hansestadt. Er gibt Einblicke in die vornehme Gesellschaft und das Treiben in den Restaurants und Cafés am Jungfernstieg, beschreibt aber auch das Elend der Cholera-Epidemie, die 10 000 Einwohner das Leben kostet. Robert Koch, Entdecker des Cholera-Bazillus, spricht beim Besuch im verseuchten Gängeviertel von asiatischen Verhältnissen.

Fuchs schildert nicht ohne Ironie den cleveren Deal des Hapag-Direktors Albert Ballin mit den Senatoren, um die bedrohten Auswanderer-Passagen weiterführen zu können. Denn die preußische Ostgrenze war geschlossen worden, da man den Flüchtlingen die Schuld für die Epidemie gab. Er gab die finanziellen Verluste zu bedenken, legte Pläne für neue Hallen vor und führte Hygiene-Maßnahmen durch. Die Auswanderer mussten zwei Wochen in unwürdige Quarantäne in den Baracken auf der Veddel, wo heute das Ballinstadt-Museum an die Umstände der Amerika-Reisen erinnert. Hamburg aber bleibt weiter das "Tor zur Welt". Ein Hafen der Hoffnung und "die Stadt, in der so viel Abschied und so viel Ankunft ist."