Vom Elbe-Einkaufszentrum zum Anleger Teufelsbrück und von da ins Alte Land zieht es Brigitte Kronauers Hauptfigur. Verena Fischer-Zernin über eine tropisch wuchernde Geschichte voll obskurer Leidenschaften.

Hören Sie mir zu! Lauschen Sie mir, so wie meine geheimnisvolle Zuhörerin in jenem Hotel im Hochgebirge es neun Abende lang tut, das ganze Buch hindurch. Ergeben Sie sich den Wortkaskaden, den Bildern von einem Hamburg so tropisch, gefiedert und dekadent, wie Sie es nicht kannten. Folgen Sie mir, wenn ich von Zara erzähle, der Königin der grün tirilierenden Abgründe, die meine erotischen Verstrickungen beherrscht und sogar meine Fantasien.

Auch meine Schöpferin Brigitte Kronauer lebt in Hamburg. Das echte Hamburg aber spielt in dem Roman "Teufelsbrück" eher eine Statistenrolle. Es dient als bundesbürgerlicher Kontrast zu der urwaldgleichen Welt, in die ich mich habe locken lassen, lustvoll betört, bedenkenlos.

Maria Fraulob heiße ich, bin vielleicht Mitte dreißig, habe Locken und eine hübsche Nase. Ich lebe von Witwenrente und selbst gemachten Blumenbroschen und wohne im Hamburger Westen. Statt Elbchaussee oder Parkstraße heißen die Straßen bei mir Geranienweg oder Taubnesselstieg. Ganz in der Nähe ist das EEZ,Elbe-Einkaufszentrum, in dem die Geschichte ihren Anfang nimmt.

Dort stoße ich mit einem Paar zusammen. Ich lande in den Armen eines, scheint mir, eleganten Verbrechers. Leo. Und bin doppelt verhext: vom Gurren, dem grell geschminkten Mund und den Schlangenpumps der Frau und von der lasziven Bleichheit ihres wesentlich jüngeren Liebhabers. Natürlich folge ich der Einladung, die Schuhsammlung in ihrer Villa im Alten Land anzusehen. Eine Bedingung gibt es: Ich muss die HVV-Fähre von Teufelsbrück nehmen.

Es werden regelmäßige Besuche daraus. Stets lauere ich darauf, Leo näherzukommen. Ich bin fasziniert von Zara, die vor meinen Augen ungeniert ihren Körper herrichtet - für Leo, wie ich annehmen muss, was aber nicht stimmt -, und mir gleichzeitig bedeutet, dass sie den Zweck meiner Besuche durchschaut. Immer tiefer zieht es mich in das schwüle Innenleben des alten Hauses hinein. Die Satinbänder, Riemchen und Schnallen von Zaras Schuhen, dazu gemacht, gelöst zu werden, nehmen mir den Atem; die Besichtigung der Voliere mit kostbaren Vögeln und ein paar Berührungen von Leo raubt mir fast den Verstand. Ziküth, ziküth, zwitschert es durch das Buch, vier, fünf, wie süß, Licht kühl, i - ü.

In jener Villa nun treffen sich die Hauptpersonen des Romans in immer neuen Konstellationen. Viel wird geliebt - oder sagen wir: begehrt? Und wenig erwidert. Wolf Specht, der scharfzüngig-melancholische Hobbydichter, liebt mich. Ich liebe Leo. Sophie, die Bibliothekarin mit dem vor Gefühlen überschäumenden Riesenbusen, liebt Leo auch. Leo, Zaras Privatimmobilienfinanzmanager, liebt Zara. Und Zara vor allem sich selbst.

Es muss erst ein ausschweifendes Fest geben, von Zara sorgfältig inszeniert, damit ich Leo kriege. Für Momente nur, samt Ausflug nach Heidelberg. Aber glauben Sie nicht, ich wollte Verlässlichkeit von ihm! Das Spielerische, Uneindeutige reizt auch mich. Es mag so aussehen, als hätte ich keine Wahl. Das liegt nur daran, dass er es ist, der den vagen Rhythmus unserer Treffen bestimmt, amüsiert und geschmeichelt.

Genauso amüsieren ihn Sophies ekstatische Aufwallungen. Da kann man sich schon mal eine Tändelei erlauben. Dass Leo sich keine Gedanken darüber macht, was sein schlichter Kuss in Sophies schwärmerischem Busen auslöst, wird ihm aber schlecht bekommen. Am Schluss gibt es einen hamletartigen Kahlschlag, bei welchem Wolf Specht, wohlverpackt in Psychopharmaka, noch vergleichsweise gut wegkommt.

Es wuchern nicht nur die Pflanzen in der Voliere, es wuchert auch die Sprache. Kleine Szenen dehnen sich über Dutzende von Seiten; die Sätze stürzen, schäumen und nebeln wie Wasserfälle. Die literarischen Anspielungen drängeln sich; Friedrich Hölderlins Ode an Heidelberg grüßt herüber, E.T.A. Hoffmanns Märchen "Der goldene Topf" und das Marienlob aus der Lauretanischen Litanei. Wo ich doch Maria Fraulob heiße.

Kein Motiv, keine Wendung ist zufällig. Vögel, Schuhe und Füße tauchen allenthalben auf; in einer Wachspuppe mit den Zügen einer Chinesin verschmelzen sie. Die Puppe spreizt anzüglich ihr Bein ab. "Vögelfüßchen", sagt Zara vieldeutig dazu; mit dem Einbinden der Füße glaubte man in China die Libido der Frau zu stärken.

Die raffinierten Vexierspiele hypnotisieren uns alle - Sie hoffentlich so wie mich, wie uns Romanfiguren. Zara aber hält die Fäden in der Hand. Am siebten Abend gibt sie sich andeutungsweise zu erkennen. Ihr Tirilieren zieht mich hinaus in den Schnee, in die Fühllosigkeit, die Selbstauflösung, das Einswerden mit der weißen Unendlichkeit - den Tod? Wer weiß es, ziküth, ziküth?