Vor 20 Jahren zog John Neumeier mit Schülern und Hamburg Ballett ins neue Haus. Hier wachsen Tänzer heran, die auf Bühne und Leben vorbereitet sind.

Hamburg. "Eine Schule ist eine Investition für die Zukunft." John Neumeier, Hamburgs Ballettchef seit 1973, hatte diese Weisheit so unermüdlich vorgetragen, dass selbst die Stadt seine Forderung nach einer Ausbildungsstätte für den Tänzernachwuchs nicht mehr überhören mochte. Er bekam sie. Nach dem Notquartier im Bierpalast wurde ihm heute vor 20 Jahren das großzügig ausgestattete Ballettzentrum in der Caspar-Voght-Straße überantwortet.

Der gebürtige Amerikaner Neumeier wollte mit Gründung der Schule Deutschland etwas zurückgeben für die Jahre, "die ich als Ausländer hier arbeiten durfte und mich als Tänzer und Choreograf verwirklichen konnte". Vor allem aber sollten deutsche Kinder eine Ausbildungsstätte bekommen, die er, bei entsprechender Befähigung, nach Abschluss ihrer Schulzeit in seine Compagnie übernehmen wollte.

Eine Zielvorstellung, die er bisher nicht verwirklichen konnte. Derzeit sind zwar 56 von 106 Schülerinnen und Schülern im Ballettzentrum deutscher Nationalität. In der Compagnie aber - augenblicklich 52 Tänzerinnen und Tänzer sowie sieben Eleven - tanzen nur sechs Deutsche, einschließlich der Eleven.

Woran das liegt, darüber kann man nur spekulieren. Wichtig ist letzten Endes, dass die Jugendlichen, die Tänzer werden möchten und die profunde achtjährige Ballettausbildung - sechs Ausbildungs- und zwei Theaterklassen - absolviert haben, so viel Spaß am Tanzen behalten, dass sie nicht vor Frust hinschmeißen, wenn sich ihr Traum nicht erfüllt, in Neumeiers Compagnie übernommen zu werden.

Natürlich wollen zunächst einmal alle ins Hamburg Ballett. Auch die sechs jungen Menschen, die stellvertretend für ihre Mitschüler ihre Träume und Zukunftsvorstellungen erzählen. Victoria aus Halstenbek, mit zehn Jahren die Jüngste, besucht Ausbildungsklasse I. Fast täglich fährt ihre Mutter sie ins Ballettzentrum. Sie ist ein zierliches Mädchen mit keckem Gesicht, das sich sehr ernst bei seinen Eltern für deren Unterstützung bedankt. "Ich sehe das Training bereits als kleinen Beruf", kommentiert sie deren Einsatz. "Ich nehme das Tanzen sehr ernst." Greta dagegen, 13 Jahre alt und in der Ausbildungsklasse IV, verrät, eigentlich schüchtern zu sein, sich nicht zu trauen, einfach ein Gespräch mit Erwachsenen anzufangen. Aber jetzt habe sie ja ein Thema, das Tanzen, da falle es ihr leicht, selbstbewusst zu antworten. Sie hat klare Vorstellungen davon, was sie erreichen möchte: "Auf jeden Fall das Abitur und dann mein Examen als Tänzerin. Ballett macht mir am meisten Spaß, ich wollte immer Tänzerin werden." Beides zu schaffen wird hart. Aber wo ein Wille ist, ist ein Weg, und die Gewissheit, mit dem Abitur später etwas anfangen zu können, wenn sie nicht mehr tanzt. Natürlich möchte sie in John Neumeiers Compagnie, aber sie würde es auch woanders versuchen. Greta macht sich in einem Alter Gedanken über ihre Zukunft, in dem andere noch spielen. Das bringt die frühe, auf Disziplin ausgerichtete Ballettausbildung mit sich.

Heute denken ohnehin die jungen Leute viel mehr über ihr zweites Berufsleben nach als vor 20 Jahren. Damals hatten die wenigsten Schüler ein Abitur im Sinn. Außer tanzen wollten sie nichts. Doch heute ist die Konkurrenz unheimlich groß, die Compagnien werden kleiner oder wegrationalisiert. Schon deshalb legt das Ballettzentrum größten Wert auf schulische Abschlüsse bei seinen Absolventen.

Auch für Fee, in Ausbildungsklasse VI, und Annika, eine Klasse tiefer, ist es selbstverständlich, das Abitur zu machen. Beide sind 15 Jahre alt, beide sind sich vollkommen sicher, Tänzerinnen werden zu wollen, aber man kann ja nie wissen. Fee war so etwas wie ein kleiner Star des Ballettzentrums, als sie in einem Schulprojekt mit 12 Jahren die Julia in "Romeo und Julia" tanzte. Damals unerbittlich ernst, ist sie heute ein lockerer Teenager mit den besten Chancen. Annika dagegen ist erst vor einem Jahr aus Bonn ins Ballettzentrum gekommen. Sie lebt dort im Internat. Nein, wehrt sie ab, es sei kein großes Opfer, von der Familie getrennt zu sein, weil sie wisse, dass es keinen anderen Weg gebe. "Das Ballett lenkt mich total ab, das macht Spaß hier."

Vielleicht ist Spaß das Zauberwort. Bei aller Disziplin, bei allem Drill haben die Schüler Freude und sie haben ihre Individualität bewahrt. Wie in seiner Compagnie legt John Neumeier Wert auf eigenständige Persönlichkeiten und nicht auf wie geklont wirkende Kunstwesen. Den Beweis liefert auch Maurus, der lockenköpfige, fröhliche Schweizer. Mit seinen 17 Jahren hat er den Realschulabschluss und ist in der ersten Theaterklasse. Vor einem Jahr kam er aus Bern nach Hamburg. Er lebt in einer Wohngemeinschaft, nachdem er zunächst im Internat untergebracht war. Gewöhnungsbedürftig für ihn: "Das war hart und lustig, weil ich nie für mich allein sein und nachdenken konnte. Aber wir hatten auch viel Spaß." Da ist es wieder, das Wort Spaß. Klar, sagt er, habe es Hänseleien gegeben, als er als Elfjähriger entschied, Ballett tanzen zu wollen. "Ah, schwul und so", hätten seine Freunde gesagt. Aber nicht lang. Er genießt es, mit seinem Körper zu arbeiten und ihn zu formen, er liebt Disziplin und Strenge, weil sie ihn weiterbringen.

Auch für den eher stillen 18 Jahre alten Italiener Nicola, der in Theaterklasse II lernt und im Frühjahr sein Examen macht. Er ist einer, der sich am liebsten und besten im Tanz ausdrückt, der auf der Bühne förmlich explodiert. Der abends nach Training und Proben so müde ist, dass er einfach ins Bett fällt. "Mein Traum wäre, in einer großen Compagnie zu tanzen, aber es wäre nicht schlimm, wenn ich in eine kleinere ginge, wo ich kreativ mitarbeiten könnte", sagt er. Nachdenklich fügt er an: "Ich habe etwas Angst davor, daran zu denken, wie es ist, wenn ich nicht mehr tanze. Ich bin ja noch Lehrling, dann werde ich Geselle, und dann sehen wir weiter."

Tag der offenen Tür im Ballettzentrum, Caspar-Voght-Str. 54, 24. Oktober, 14-17.30 Uhr, Eintritt frei.

Ballett-Werkstatt "20 Jahre Ballett-Zentrum", Moderation: John Neumeier, 26. Oktober, 19 Uhr