Von 34 Schülern kommen nur sechs aus Deutschland. Morgens sind sie in der Schule, nachmittags an der Ballett-Stange.

Manchmal, wenn Haruka (11) abends im Bett liegt, denkt sie an zu Hause und bekommt Heimweh. Dann telefoniert sie mit ihrer Mutter und fühlt sich besser. Meistens, wenn Haruka abends im Bett liegt, denkt sie aber daran, eine berühmte Tänzerin zu werden. Eine Primaballerina. Denn deswegen ist sie hier in Hamburg. Mehr als 9000 Kilometer von ihrem Zuhause in Japan entfernt. Aber ihrem Traum ganz nahe.

Es ist ein Traum, der ein bisschen anders ist. Ein Traum, der in Zeiten von Superstars und Topmodels nur noch von wenigen geträumt wird - und den man sich nicht durch eine Castingshow erfüllen kann. Sondern nur durch hartes Training, sechs Tage die Woche. Doch es ist ein Traum, für den viele bis ans andere Ende der Welt ziehen. In das Ballett-Internat von John Neumeier.

Haruka ist die jüngste hier. Doch sie ist nicht die Einzige, die für ihren großen Traum die Heimat verlassen hat. Von 34 Schülern im Internat sind nur sechs aus Deutschland. Die anderen kommen aus Japan und den USA, von den Philippinen, aus Argentinien, Chile, Spanien und Italien. So wie Chloe (14). Wie alle hier träumt sie davon, Tänzerin zu werden. "Das ist etwas, das einem bei der Geburt mit in die Wiege gelegt wird", sag Chloe aus Italien. Es ist kein Traum, den man sich bewusst wünschen oder beeinflussen kann. Keine kurzzeitige Laune, sondern ein Lebensziel. Darin sind sich die meisten einig. Deswegen haben sie schon als Kinder mit dem Tanzen angefangen. Haruka mit vier Jahren, Chloe mit drei Jahren. "Anfangs habe ich nur zum Spaß Ballett gemacht, doch irgendwann hat mir das nicht mehr gereicht", sagt Chloe. Irgendwann kam der Punkt, wo sie jeden Tag tanzen wollte. Also schickten ihre Eltern sie vor zwei Jahren in die Ballettschule von John Neumeier. 1140 Kilometer von Mailand entfernt. Aber ihrem Traum ein Stück näher.

Manchmal, wenn Chloe abends im Bett liegt und Heimweh bekommt, riecht sie an dem Parfüm ihrer Mutter und denkt an den nächsten Besuch ihrer Eltern. Meistens, wenn Chloe sich einsam fühlt, verlässt sie aber einfach ihr Zimmer und geht in den Aufenthaltsraum, wo sich die Schüler des Internats in ihrer Freizeit treffen. "Die anderen sind mein Familienersatz", sagt Chloe.

Die Großen helfen den Kleinen, die alten Hasen kümmern sich um die Neuen. So wie Valerio um Haruka. Er ist schon 15 Jahre alt und hat Haruka über die schwierige Anfangszeit hinweggeholfen. Über die Probleme mit der neuen Sprache, über das fremde Essen, das Heimweh. Die erste Zeit sei immer schlimm, sagt Ulrike Oergel (43), die stellvertretende Internatsleiterin. Zusammen mit einem Team aus Erziehern kümmert sie sich um die 34 Schützlinge im Internat. Sie unterstützen die Kinder bei den Hausaufgaben, begleiten die Schüler bei Arztbesuchen und Elternabenden - und helfen ihnen bei dem Sprung über die breite Kluft zwischen Fantasie und Realität. "Viele Kinder denken, dass sie bei uns den ganzen Tag tanzen dürfen und Spaß haben. Wenn sie merken, dass der Alltag anders aussieht, ist das für viele ein Schock", sagt Ulrike Oergel. Wer dann nicht selbst an seinen Traum glaubt, sondern nur auf Wunsch der Eltern die Ballettschule besucht, schafft es nicht. Jährlich sind das ein bis zwei Kinder, die aufgeben. Hinzu kommen jedes Jahr einige Schüler, die die Abschlussprüfung nicht schaffen - und die Schule verlassen müssen. So wie Valerio, Harukas bester Freund. Er darf nach den Sommerferien nicht zurück auf die Schule. Doch Haruka wird zurückkommen. Manchmal wird sie vielleicht Heimweh haben. Meistens wird sie aber an ihren großen Traum denken. Auf der Fensterbank in ihrem Zimmer steht ein Bild, das Valerio ihr geschenkt hat. Es zeigt eine Primaballerina.