Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wurde für ihre Fähigkeit gewürdigt, Geschichte in Erinnerungskunst zu verwandeln.

Es war ein Auftritt, wie ihn Herta Müller noch nicht überstehen musste. Kameras und Blitzlicht begleiteten ihren Weg, als sie sich im Deutschen Börsenverein in Berlin Fragen zu ihrem unerwarteten Erfolg stellte. Stunden vorher hat die 56-jährige Schriftstellerin erfahren, dass sie zehn Jahre nach Günter Grass mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. "Es ist schön", sagt sie dann. "Aber es wird nichts verändern. Meine innere Sache ist das Schreiben."

Herta Müllers jüngst veröffentlichter Roman "Atemschaukel", der auch für den deutschen Buchpreis nominiert ist, hatte die Jury in Stockholm überzeugt. Seit gestern ist die Rumäniendeutsche als einer jener Autoren anerkannt, die albtraumhafte geschichtliche Erfahrungen in vor Schönheit schmerzende Sprache umzusetzen verstehen. Schriftsteller, die Geschichte nicht nur abbilden oder nachvollziehbar machen wollen, sondern sie in Erinnerungskunst zu verwandeln wissen, stehen mit dieser außerordentlichen Fähigkeit stets weit oben auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis.

Alexander Solschenizyn zählte dazu. Sein literarisches Denkmal für die Opfer des Sowjet-Terrors, "Der Archipel Gulag", wurde zwar erst 1973, drei Jahre nachdem er den Literaturnobelpreis bekommen hatte, veröffentlicht, aber Solschenizyn hatte seit 1958 an der Dokumentation gearbeitet. Auch Imre Kertesz gelang mit seinem stark autobiografischen "Roman eines Schicksallosen", der seine Zeit in verschiedenen KZ thematisierte, Erinnerungskunst auf Weltniveau und wurde 2002 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Heinrich Böll erhielt den Preis 1972 für seinen "zeitgeschichtlichen Weitblick". Und auch Günter Grass' "Die Blechtrommel", für die er mit drei Jahrzehnten Verspätung 1999 den Literaturnobelpreis bekam, schildert historische Ereignisse in kunstvollen Sprachbildern.

Nun ist es Herta Müller. "Atemschaukel", ihr Roman über die Deportation Abertausender Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in die Sowjetunion, ist der Versuch, aus dem Inneren der Hölle zu sprechen. Müller verleiht jenen Männern und Frauen Ausdruck, die im Winter 1945 aus Rumänien verschleppt wurden und in sowjetischen Kolchosen und Kombinaten als Zwangsarbeiter ums Überleben kämpften. Sie waren Zivilisten, Sträflinge, die nie verurteilt worden waren. Unzählige von ihnen sind umgekommen. Erst 1950 war die Haft für diejenigen, die überleben konnten, zu Ende. Herta Müller findet Worte für den Schmerz der Inhaftierten, denen Sicherheit und Selbstbewusstsein ausgetrieben wurden, deren Tun und Träumen, Denken und Fühlen von der Allgegenwart des Hungers dominiert wird. Sie beschreibt, wie der Einzelne seiner Individualität beraubt und zum Tier wird. Ruth Klüger, die selbst als Kind ins KZ verschleppt wurde, beschreibt in einer Rezension, wie Müllers Roman "zu Nachdenken und Erstaunen zwingt über das von Menschen anderen Menschen zugefügte Elend, das in seiner Willkür niemandem etwas bringt und wofür es keine rechte Erklärung gibt. Nur Einsichten, wie es war, und die Trauer über das nicht Wiedergutzumachende".



Herta Müller, die seit 1982 Prosa und Gedichte veröffentlicht, schildert in einem Großteil ihres Werkes die Auswirkungen des Totalitarismus auf das Leben jedes Menschen. Die Diktatur und das Dorf sind ihre Koordinaten. Diktatur, das ist bei ihr auch "Enteignung von Sinnlichkeit". Sie zeichnet die Kindheit "als Schule der Angst", erweckt den rumänischen Alltag zum Leben, wenn sie Verhöre, Traumata und Verwahrlosung ausmalt. Seit 1987 lebt Herta Müller in Deutschland, in Berlin. In Rumänien wurde sie mit Zensur belegt und vom Geheimdienst verfolgt. Ihren ersten, 1984 im Westen erschienenen Roman hatte sie aus Rumänien schmuggeln lassen. Sofort wurde sie als literarische Entdeckung gefeiert.


Am Ende war sie auf der Liste der Nobelpreis-Favoriten bereits weit nach oben gerückt, auf Platz zwei, hinter dem Israeli Amos Oz und vor Joyce Carol Oates, Philip Roth und Thomas Pynchon, die alle aus den USA stammen. Politisch ist es für das Nobelpreiskomitee wohl immer noch nicht opportun, den weltweit wichtigsten Literaturpreis einem Amerikaner zuzusprechen. Herta Müller ist innerhalb von zehn Jahren - nach Grass und Elfriede Jelinek - immerhin die dritte deutschsprachige Literaturnobelpreisträgerin.


Herta Müller, 1953 im Kreis Temeschwar, im deutschsprachigen Banat Rumäniens geboren, erlernte erst mit 15 Jahren die rumänische Sprache. Ihr Großvater, ein wohlhabender Kaufmann, wurde vom kommunistischen Regime enteignet. Ihre Mutter war zu jahrelanger Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert worden. Ihr Vater, ein jähzorniger ehemaliger - wohl zwangsverpflichteter - SS-Soldat, den das Kind fürchtete, war Alkoholiker und verdiente sein Geld als Lastwagenfahrer.


1976 begann Herta Müller als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Weil sie die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst Securitate ablehnte, wurde sie entlassen. Sie arbeitete dann als Lehrerin und Kindergärtnerin und begann zu schreiben. 1985 beantragten sie und ihr Mann, der Schriftstellerkollege Richard Wagner - von dem sie inzwischen geschieden ist -, aus politischen Gründen die Ausreise in die Bundesrepublik. Vor ihrer Ausreise 1987 wurde sie mit einem Reise- und Publikationsverbot belegt. Zu ihren bekanntesten Werken zählen "Der Fuchs war damals schon der Jäger" über den Alltag in einem totalitären Land, "Herztier", Impressionen über staatlichen Terror, Betrug und Unfreiheit, "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" vom albtraumhaften Leben in einer verkehrten Welt.


Die Autorin wird dafür gerühmt, dass sie in ihren Romanen die Schrecken des Totalitarismus poetisch intensiviert darzustellen weiß. Ihre Sprache verschafft ihr einen besonders genauen und eindringlichen Zugang zu den Schrecken des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere zu den furchtbaren Erfahrungen des Ceausescu-Regimes. "Die Kraft ihrer Metaphorik hat das Bestürzende, das Welterschütternde der Totalitarismuserfahrung erst erfahrbar und lesbar werden lassen", heißt es. Die Kritikerin Verena Auffermann schreibt über die Nobelpreisträgerin: "Herta Müllers Sätze sind rücksichtslos, mitleidsfrei und brutal. Sie sind in einer klirrend klaren Sprache geschrieben und funktionieren nach asketischen Regeln." Und Kritiker Norbert Eke befindet: "Ihre Texte wollen erschrecken und irritieren, verwunden und verwundern." Ihre Worte kreisen immer wieder um die tonlose Angst in einem mörderischen System, um Morddrohungen, um die Wahrheit und das Gefühl, in einem zum Verrat dressierten Volk aufgewachsen zu sein.


Müller wehrt sich dagegen, als Exotin mit fremdem Blick auf Deutschland vereinnahmt zu werden. "Ich schreibe keine Historie und keine Zeitzeugenberichte, ich betreibe keine Aufklärung", fasst sie selbst ihre Arbeit zusammen. "Ich mache Literatur. Ich habe das Problem, dass ich immer wieder besessen werde und Literatur machen muss."


Die Nobelpreisjury begründete ihre Entscheidung so: "Herta Müller hat mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit gezeichnet." Müller, die seit einigen Jahren zu den preiswürdigen Kandidaten gezählt wurde, hat auf den Anruf, der sie gestern von Stockholms Jury-Chef Peter Englund erreichte, "überwältigt und sprachlos" reagiert. Das sei einer sprachmächtigen Schriftstellerin zugestanden.


Am Ende eines aufregenden Tages fand sie doch noch einige Worte: "Ich werde nicht den ganzen Tag Nobelpreisträgerin sein - wenn ich am Tisch sitze, Spiegeleier mache oder Kartoffeln kaufe. Das kann ich einordnen."