Zwischen Philosophie und Prollkultur - ein Plädoyer gegen die Intellektualisierung des Fußballs. Zu viel wird darüber geschrieben.

Vielleicht hätte man 2006 einfach aufhören sollen. Nach dem Finale der Fußball-Weltmeisterschaft in Berlin, nach diesem unfassbaren Kopfstoß des Franzosen Zinédine Zidane, der ihm in der 109. Minute einen Platzverweis einbrachte. Es war ein Abgang, wie er dramatischer nicht hätte sein können, weshalb der französische Autor Jean-Philippe Toussaint das Finale wenig später in einem dünnen Büchlein literarisch resümierte: "La Mélancholie de Zidane". Wohl nie ist ein Fußballspiel so wortschön aufbereitet worden.

Vielleicht wäre das ein gutes Ende gewesen. 2006 hatten die meisten deutschen Autoren einen schönen Fußballroman geschrieben, schnöde Turniere waren Biennalen der Fankultur, und die Stadionwurst war ein kulturwissenschaftliches Phänomen. Doch natürlich ging das Intellektualisieren über Fußball weiter. Und nun, im Jahr 2012 und kurz vor der EM, scheint es, als sei jeder Strafstoß schon einmal literarisiert, als sei jedes Finale lyrisch interpretiert worden. Und die Frage bleibt, was davon bleibt - außer einer gentrifizierten Sportart, die keine Geheimnisse mehr birgt, deren Wurzeln und Wunder allesamt auserzählt scheinen.

Flotte Fußball-Feuilletons

Begonnen hatte das Interesse der Intellektuellen für den Rasenballsport Mitte der 90er-Jahre, es war die Zeit, in der Fußball nach schlimmen Gewalt- und Hooligan-Exzessen zur Popkultur wurde. Nick Hornby schrieb "Fever Pitch" (1992), die grandiose Geschichte über die Lieben und Leiden eines Arsenal-London-Fans, die "Süddeutsche Zeitung" entwickelte unter Ludger Schulze ihr bis heute unerreichtes Sportfeuilleton. Ronald Reng, Sportreporter und Literat, ging als freier Journalist nach London; und in Berlin gründeten zwei kluge junge Männer ein kleines Fußballmagazin, das sie "11Freunde" nannten: wenige, dafür abseitige Themen, keine Werbung, dickes Papier. So sahen die ersten Exemplare aus.

Der schnelle Beat überzeugt die Uefa-Funktionäre

Inzwischen sind die "11Freunde" im Mainstream angekommen, eine große Erfolgsgeschichte, ohne Zweifel. Aber natürlich hatte sie, wie jede gute Idee, einfach ihre Zeit. Die Zeit der ironischen Statements (Rudi-Völler-Scherenschnitte) und der Retro-Mode (Trikots, Taschen, Trainingsjacken). Eine große Sehnsucht sprach und spricht ja daraus: Es gibt keine Völlers mehr, keine Cruyffs, keine Wunder von Bern. Fußball ist ein Geschäftsmodell geworden, die Akteure Millionäre, ihre Lebensläufe ein guter Businessplan.

Fußball-Literatur

Doch wo die Maschinerie der Vermarktung allzu offensichtlich läuft, verpufft der Zauber der Verklärung. Während es in den 90er-Jahren noch kühn war, den Proletensport und die Philosophie zusammenzubringen, gehört es heute zum guten Ton. Wobei ja durchaus große Literatur daraus erwachsen ist: Thomas Brussigs Roman "Leben bis Männer" (2001) zum Beispiel, der Monolog eines Mannes, dessen Lebensphilosophie sich auf ein Wort reduzieren lässt: Fußball. Moritz Rinke übers Kicken hat auch immer Spaß gemacht. Oder "Vorne fallen die Tore" - das von Rainer Moritz 2002 herausgegebene Buch, das wundervolle Texte zum Wesen dieser Sportart sammelt.

Die EM-Stimme

Doch irgendwann wurde es des Guten zu viel. 2004 wurde in Nürnberg die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur gegründet, 2005 die deutsche Autoren-Nationalmannschaft (Autonama). 2008 führte die Wiener Staatsoper ein Fußball-Ballett auf. In der aktuellen Ausgabe des Sportmagazins "11Freunde" schreibt Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturprofessor an der Stanford University, über Mesut Özil: "Sein Minimalismus ist eine Variante jenes Grundprinzips, auf das immer schon (bewusst oder unbewusst) anspielte, wer seit der europäischen Renaissance das Wort ,Eleganz' gebraucht hat." Es ist, zugegeben, der komplizierteste Satz des ganzen Beitrags, aber die Frage bleibt: Wem hilft es, so über Fußball zu schreiben, außer dem Schreibenden selbst? Die Sprache der neuerdings so erfolgeichen Jungtrainer ist es jedenfalls nicht. Die Sprache der Klopps, Tuchels und Slomkas ist keine feuilletonistische, sondern eine klare, sehr analytische. Besonders Jürgen Klopp gilt als intelligenter, sprachgewandter Fußballlehrer; für ebenso viel Freude im Fußballrund allerdings sorgt die Tatsache, dass er durchaus Tendenzen zum Proll hat.

In den meisten europäischen Ländern hat sich die Gentrifizierung des Ballsports vollzogen. Auch in Frankreich, wo die Philosophen vor Langem begannen, das Phänomen Fußball zu vergeistigen, Albert Camus oder Jean-Paul Sartre. Ende der 90er meldeten sich die Philosophen wieder zu Wort. Die "Equipe Tricolore" hatte die WM gewonnen, worin man die Integration mehrerer Generationen von Einwanderern verwirklicht sah. Hehre Gedanken waren das, bis ein zerstrittenes französisches Team in Südafrika 2010 scheiterte. Auch hier stellt sich die Frage, was von all dem bleibt, was damals in den Fußball hineininterpretiert wurde.

Neulich, als der FC Bayern ziemlich tragisch das Finale der Champions League im eigenen Stadion verlor, schrieb der Reporter Holger Gertz in der "Süddeutschen Zeitung" eine ganze Seite "Über das Verlieren". Sie endete mit den Worten: "Was ist das Großartige am Fußball? Dass er, in seinen besten Momenten, wie das Leben ist, so kann man es wohl sagen."

Ein großer Satz. Weil man mehr über den Fußball im Grunde nie wieder sagen muss.