Vor einem Jahr zogen Intendant Ulrich Khuon und prominente Schauspieler vom Thalia in Hamburg an das Deutsche Theater in Berlin.

Berlin. Werner Wölbern zuckelt mit einem kleinen Rollkoffer die Schumannstraße hinunter, Katrin Wichmann schließt ihr Fahrrad auf dem Vorplatz des klassizistischen Gebäudeensembles an, Andreas Döhler trottet in Richtung Bühneneingang, Judith Hofmann wird von ein paar Leuten mit großem "Hallo!" begrüßt, bevor sie in der Kantine verschwindet, Daniel Hoevels sitzt mit seiner Freundin auf einer Bank vis-à-vis dem Theater. Hamburger Theatergängern sind alle diese Namen und Gesichter vertraut. Vor einem Jahr noch war das Thalia-Theater am Alstertor ihre Heimat und die Gaußstraße in Ottensen ihr Experimentierfeld. Jetzt haben sie ein neues Domizil im neuen Herzen von Berlin, im Stadtteil Mitte, gefunden: das Deutsche Theater, kurz DT genannt.

Mehr als 30 Schauspieler, Dramaturgen, Regisseure und Musiker hat der ehemalige Thalia-Intendant Ulrich Khuon aus Hamburg in das Haus mitgenommen, das er seit Beginn der Spielzeit 2010/2011 leitet. Eine fast beispiellose Karawane, vergleichbar höchstens mit dem Umzug von Claus Peymanns Ensemble Ende der 70er-Jahre von Stuttgart nach Bochum. "Es hatte schon etwas von einer Klassenreise", sagt Judith Hofmann, eine der Protagonistinnen sowohl am Thalia als auch am DT.

Dass Schauspieler und künstlerische Mitarbeiter mit ihrem Intendanten ziehen, ist ein normaler Vorgang, weil die Intendanten mit Schauspielern in der Regel keine Engagements über ihre eigene Vertragsdauer hinaus abschließen. Wenn das Intendantenkarussell sich dreht, folgen viele ihrem Theaterleiter, um sich an einem anderen Ort neuen Herausforderungen zu stellen. Doch eine derart kompakte Verpflanzung geht nicht ohne Irritationen und Zweifel.

"Am Anfang hat man schon Gegenwind gespürt", sagt Susanne Wolff, unter Khuon in Hamburg zum Theater-Star avanciert. "Aber es war für mich die richtige Entscheidung und der beste Zeitpunkt, hierher zu gehen. Ich fühle mich hier richtig wohl." Ihre Kollegin Maren Eggert ist da weniger euphorisch. Die gebürtige Hamburgerin sagt, sie sei privat gut angekommen, obwohl sie Berlin als sehr ruppig empfindet. "Beim Theater muss ich noch mal gucken, ob das hier mein Ort ist."

Eggerts Zurückhaltung hat auch mit negativen Kritiken und einem reservierten Publikum zu tun. Die von Rafael Sanchez inszenierte Komödie "Sein oder Nichtsein" nach dem Ernst-Lubitsch-Film wurde gnadenlos verrissen, Michael Thalheimers Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" fiel in der Premiere ebenfalls durch. "In Hamburg gab es zumindest für die Schauspieler immer herzlichen Applaus, auch wenn die Inszenierung nicht gut angekommen war. Bei den 'Nibelungen' gab es nach einem dreistündigen Stück nur müden Beifall. Das fand ich krass."

Mit ihrem Unverständnis den Kritikern gegenüber steht Maren Eggert nicht allein. "Es war am Anfang schon schwierig, mit der Arroganz der Berliner Kritik umzugehen", sagt Regisseur Stephan Kimmig. Seine Inszenierung von "Kabale und Liebe" bekam von den Berliner Kritikern ebenfalls auf die Mütze, bei "Öl", mit Nina Hoss und Susanne Wolff in den Hauptrollen, hieß es, es sei "noch Luft nach oben".

Für "Maria Stuart" jedoch erntete Kimmig kürzlich Lobeshymnen. Als "Glücksfall" bejubelte die "Berliner Morgenpost" die Inszenierung mit Susanne Wolff in der Titelrolle. Selbst das als reserviert und ungeduldig verschriene Premierenpublikum applaudierte lautstark und anhaltend. Susanne Wolff feierte wieder einen Triumph, da ist das Ankommen in einer neuen Stadt leichter als bei den Kollegen, die auf der Bühne nicht so freundlich willkommen geheißen wurden.

"Die Erwartungen sind oft überzogen. Wenn etwas in Hamburg gut war, gilt es hier als durchschnittlich", sagt Dramaturg John von Düffel. Die "Kategorie Hauptstadttheater" nennt er das. Der Dramaturg hat noch etwas rot geränderte Augen. Was nicht an einer durchzechten Nacht liegt, sondern daran, dass der leidenschaftliche Schwimmer in der Mittagspause im Tiergartenbad ein paar Bahnen gezogen hat. "Das Publikum hier ist gnadenloser", sagt er, "es hat diese verwöhnte Einstellung: Wenn ihr mich nicht glücklich macht, gehe ich eben drei Straßen weiter in ein anderes Theater." Bei "Maria Stuart" ist das zum Glück nicht nötig.

Auch nicht bei "Diebe", der Uraufführung eines Stücks der in Berlin lebenden Dramatikerin Dea Loher. Andreas Kriegenburg hat den Reigen in Szene gesetzt, und es ist nach einem schwierigen Beginn der Ära Ulrich Khuon so etwas wie der Wendepunkt gewesen. "Es war so ähnlich wie Thalheimers 'Liliom' in Khuons erster Hamburger Spielzeit", erzählt John von Düffel. Der Dramaturg ist ohnehin der Meinung, dass man einfach Zeit brauche, um aus den verschiedenen Gruppen am DT wieder ein starkes Ensemble zu formen.

"Die Integration funktioniert nur über gemeinsame Arbeit", sagt Intendant Ulrich Khuon. Die Erwartungen seien extrem hoch gewesen. "Es war so, als habe man einen Achttausender bestiegen, und nun muss der nächste Gipfel erklommen werden. Leicht ist nix", resümiert Khuon.

Doch sein Leitungsteam und die Schauspieler sind hoch motiviert, sich mit der Stadt Berlin und ihren Bewohnern auseinanderzusetzen und ihnen tolles Theater zu bieten. "Der Geist aus Hamburg ist mitgekommen. Und dass man in der ersten Spielzeit aufs Dach bekommt, ist wohl auch normal", sagt Susanne Wolff.

Durchweg positiv wird von den Schauspielern empfunden, dass alle drei Bühnen - das große Haus mit 600, die Kammerspiele mit 230 und die Box mit 80 Plätzen - sowie die Probebühnen dicht beieinanderliegen. Am Ende des Tages trifft man häufig die Kollegen, die geprobt oder auf einer anderen Bühne gespielt haben. "Es ist nicht so verzettelt wie in Hamburg", sagt Judith Hofmann. Auch Maren Eggert hat sich im Thalia nach den Vorstellungen oft isolierter gefühlt als jetzt: "Jetzt gehe ich meistens noch in die Kantine, um ein bisschen zu quatschen."

Berlin und sein durchaus schwieriges Pflaster ist Realität für die in Busstärke nach Berlin gekommenen Thalianer geworden, doch jeder der Akteure vermisst ein Stück Hamburg, so gut er auch schon in der Hauptstadt angekommen ist: Judith Hofmann ihr soziales Netzwerk in Eimsbüttel und ihre Freundin Sandra Flubacher, die am Thalia-Theater geblieben ist.

Susanne Wolff fehlt es, an der Elbe entlangzulaufen oder mit dem Fahrrad durch St. Pauli zu fahren; Stephan Kimmig vermisst die Wolken, den Wind und die besonders frische Luft der Hafenstadt Hamburg. Ulrich Khuon empfindet Wehmut bei dem Gedanken an die glückliche Zeit in Hamburg. "Es ist wie ein Beziehungsbruch", sagt er.

Maren Eggert blickt etwas wehmütig zurück an die Zeit im Haus am Alstertor: "Ich habe mich da sehr aufgehoben gefühlt", sagt sie.

John von Düffel schließlich fehlen die Gaußstraße und Schauspieler wie Peter Jordan und Norman Hacker, die er als "Glücksfälle" bezeichnet. "Und natürlich das Bäderland mit seinen in der Republik einmaligen Öffnungszeiten. Da konnte man sogar nach 22 Uhr noch schwimmen." Zumindest im Sommer hat der in Potsdam wohnende von Düffel für sich eine von Reglementierungen unabhängige Lösung gefunden: "Da schwimme ich im Heiligen See."

Lesen Sie morgen, wie Ulrich Khuons Nachfolger Joachim Lux die Situation am Hamburger Thalia-Theater sieht