Es begann mit einem Skandal. Es endet mit einer langen künstlerischen Glücksphase. Ein Rückblick auf neun erfolgreiche Theaterjahre.

Hamburg. Richtig begonnen hat es erst mit dem Eklat. Als im Dezember 2000 Michael Thalheimer in seiner "Liliom"-Inszenierung Liebesakte im Stehen, minutenlanges Blutgespritze und Gebrüll auf der Bühne des Thalia-Theaters präsentierte, rief Hamburgs ehemaliger Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi wütend: "Das ist doch ein anständiges Stück, das kann man doch anständig spielen." Der Satz blieb hängen, überall in Deutschland. Für lange Zeit. "Ich hab über diese Aufführung erst den Wert des Skandals erkannt", sagt Ulrich Khuon, "aber so etwas kann man weder planen noch verhindern." Was war da los am Thalia-Theater unter diesem neuen Intendanten Ulrich Khuon, der schon mit Beginn seiner ersten Spielzeit aufregende junge Regisseure, Autoren und Schauspieler gezeigt hatte?

"Die Innovationsfreudigkeit des Hamburger Publikums hatte ich überschätzt", sagt Ulrich Khuon heute, am Ende seiner Amtszeit, "das hat mich richtig überrascht. Man hatte hier doch schon seit Jahren viele aufregende Inszenierungen gesehen." "Der Spiegel" schrieb damals: "Hamburg brüstet sich gerne damit, die Hauptstadt des Theaterfortschritts zu sein." Die ist es dann auch geblieben. Dank Ulrich Khuon.

Neun Jahre lang hat Khuon das Thalia-Theater geleitet, bevor er es nun Richtung Berlin verlässt, wo er Intendant des Deutschen Theaters werden wird. In dieser Zeit entwickelte sich das Haus zur stilprägenden deutschen Bühne. Hier wurden die namhaften Regisseure des deutschsprachigen Theaters groß, das Thalia-Ensemble gilt - neben dem der Münchner Kammerspiele - als das beste Deutschlands. Wie schafft man es, ein Theater zum künstlerischen Zentrum des Landes zu machen, gleichzeitig ein Schauspieler-, Regie- und Autoren-Theater auf höchstem Niveau zu präsentieren und Deutschlands Bühne mit den meisten Zuschauern und besten Einspielergebnissen zu werden?

Ulrich Khuon hält sich gern an Regeln, die auch in anderen kreativen Branchen gelten. Die Wesentlichen unter ihnen lauten: "Es gibt nie nur eine gute Idee, sondern mindestens drei. Diskutiere Entscheidungen mit der Gruppe. Die Grundlage für Kreativität ist Spaß. Keine Kompromisse, wenn es um Qualität geht. Die Stimmung des Chefs sorgt für das entsprechende Klima." Er ergänzt: "Ich habe immer alles in sehr enger Absprache mit unseren Dramaturgen und den Regisseuren entschieden, Besetzungen, Stücke, Spielpläne." Ganz vorne steht für ihn: "Jeder Einzelne im Ensemble ist etwas Besonderes, muss auch als etwas Besonderes wahrgenommen werden. Alle Schauspieler wussten, dass sie meine Wahl waren."

Ulrich Khuon ist so etwas wie ein ordentlicher Hausvater, verlässlich, besorgt, pflichtbewusst. "Ich bin ein Kümmerer. Möchte von jedem Einzelnen rausbekommen, was ihm sehr wichtig, mittelwichtig und unwichtig ist. Nur so kann man die Künstler optimal einsetzen. Wir gehen mit jedem Autor, Regisseur oder Schauspieler längere Wege, denken genau darüber nach, wer was spielt, und führen hartnäckige Gespräche."

In diesem Thalia-Ensemble konnte sich jeder nach vorn spielen. Früher oder später. Alle wussten, dass sie im Fokus bleiben. "Ich habe viel von dem Vertrauen, das ich gegeben habe, zurückbekommen", sagt der Intendant.

Ulrich Khuon ist ein eher nachdenklicher Mann. Ein unaufgeregter, sachlicher, grundsolider Schwabe, der den Bodensee-Tonfall mit dem "R", das im Rachen versinkt, nie abgelegt hat. Kein Kumpeltyp, keine Rampensau, keiner, der in der Kantine lautstark Anekdoten erzählt. Nie hat man ihn, ob bei Festakten, Diskussionen oder auf dem Kirchentag, etwas Dummes sagen hören.

Wer ihn necken will, nennt ihn "Pater Ulrich". Khuon hat Theologie und Jura studiert. Zehn Jahre lang. "Im Jurastudium lernt man, Dinge auf den Punkt zu bringen, Strukturen zu erkennen. Das ist sehr wichtig, wenn man ein Theater leitet", sagt er, "und Theologie ist eine Art Menschenkunde. Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie kann man immer gebrauchen." Er sei "nicht als Chef, der schon wusste, wie alles geht", ins Theater gekommen. "Oft war ich auch zaghaft", gesteht der Intendant, dem man in den vergangenen Jahren in Wien, Zürich oder Berlin des Öfteren attraktive Posten angeboten hat und der sich nun, mit Ende 50, noch einmal neu beweisen will.

Wie fing es an in Hamburg, im Sommer 2000, als er nach 15 Jahren von Jürgen Flimm die Bühne übernahm? Ulrich Khuon zitiert gerne Kreativchef John Lasseter: "Hol dir die Besten und halte aus, dass sie die Besten sind." So etwas geht gut mit einfachen, anpassungsfähigen, biegsamen Mitarbeitern. Aber unter den 300 Kollegen des Thalia-Theaters sind die eher die Ausnahme. Khuon brachte Künstler mit starken Handschriften mit, Menschen, die sich durchsetzen wollten. Als Regisseure Michael Thalheimer, den strengen Melancholiker, Andreas Kriegenburg, den produktivsten und stilistisch abwechslungsreichsten deutschen Regisseur, Stephan Kimmig, den psychologischen Menschensezierer, oder Armin Petras mit seinen minimalistischen Collagen. Hinzu kamen Nicolas Stemann mit seinen intelligent-radikalen Inszenierungen und die Jungstars David Bösch und Jorinde Dröse. All diese Künstler konnten sich am Thalia nebeneinander so entwickeln, dass sie nun überall gefragt sind.

"Wenn man einen reizvollen Spannungszustand hinbekommt, ist das das höchste der Gefühle", sagt Khuon. "Man braucht unverwechselbare Handschriften, die sich sehr voneinander unterscheiden. Aber alle müssen gut mit den Schauspielern zusammenarbeiten können. Es war immer klar, dass es von mir den zugeneigten Blick auf alle gab. Ich glaube, dass man von innen nach außen arbeiten muss. Zuerst muss die Arbeit innen stimmen. Dann kann sie auch nach außen stimmen."

Was waren aus Sicht Khuons die Höhepunkte? "'Das Fest', 'Nora', 'Unschuld', 'Das letzte Feuer', 'Zeit zu lieben'; 'Ulrike Maria Stuart', 'Lulu' und 'Liliom' würde ich vor allem nennen." Einige dieser Aufführungen kann man jetzt auf einer DVD, die das Thalia verkauft, wieder sehen.

Und die größte Überraschung? "In meinem dritten Jahr lagen eines Abends im Theater drei Faxe vom Theatertreffen. Wir waren mit drei Inszenierungen eingeladen, ,Liebelei', ,zeit zu lieben' und ,Nora'. Unglaublich! Leider gewöhnt man sich schnell an den Erfolg. Das ist schade. Dadurch entsteht ein zu hoher Anspruch. Man verliert die kindliche Freude."

Die wird er wohl in Berlin wiederfinden. Obwohl er viele seiner Künstler mitnimmt, wird er ganz neu anfangen müssen. "Hamburg wird mir schmerzlich fehlen", sagt Ulrich Khuon. "Hier hatte ich meine beruflich erfüllendste Zeit. Und die Stadt ist wunderschön."