Tagebuch

Teil 10: Flüchtlinge, meine neuen Nachbarn

| Lesedauer: 17 Minuten
Schreibt Tagebuch über
seine neuen Nachbarn,
die Flüchtlinge: Jan
Melzer aus Poppenbüttel

Schreibt Tagebuch über seine neuen Nachbarn, die Flüchtlinge: Jan Melzer aus Poppenbüttel

Foto: Andreas Laible / HA

Als er erfuhr, dass in seiner Umgebung ein Flüchtlingsheim gebaut wird, begann Jan Melzer, ein Tagebuch zu schreiben.

Tagebucheintrag 57 – Köln

Silvester in Köln.

Igitt, was für ein widerlicher Tag! Es ist der Dienstag nach Silvester und aus dem Radio dröhnt nur eine Meldung: Migranten haben in Rudeln Frauen angegrapscht, in einem Fall sogar vergewaltigt. Ähnliches passierte auch in meinem Hamburg. Oh, nein! Das ist der GAU, das durfte nicht passieren. Es klingt, wie von der Pressestelle der Pegida ausgedacht, ist aber leider die Wahrheit. Irgendwelche schlimmen Nordafrikaner haben alle Zivilisation fahren lassen. Und das auch noch als Taschendiebstahl-Masche. Was für Sackgesichter!

Hier ist für mich Schluss! Gewalt gegen Frauen kotzt mich sowieso an, und ich frage mich immer wieder, wieso Vergewaltiger so milde verurteilt werden. Aber Migranten, die nach meinem Dafürhalten eigentlich dankbar unsere Gastfreundschaft genießen sollten, die dann eben diese Gastgeberinnen angrapschen?! Nein, da bin ich ganz rechts, das ist absolut inakzeptabel. Die deutschen Frauen sind doch diejenigen, die in der Mehrheit in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe sind! Ich könnte schreien vor Wut!

In meinem Zorn entwerfe ich eine neue Hubschrauber-Staffel der Bundespolizei, die einzig und allein zur Abschiebung da ist und jeden, der meint, dass deutsche Frauen Freiwild sind, mit einem Fallschirm über einer Wüste im Jemen verklappt. Fertig, aus.

(Bevor ich jetzt zu viel Beifall von falscher Seite bekommen: Ich bin ein überzeugter Anhänger des Rechtsstaats. Jedem Menschen steht ohne Ansicht der Person ein faires Verfahren zu. Meine Abschiebe-Hubschrauber-Fantasie ist für mich nur ein Ventil meines Zorns. Denn diese migrantischen Übeltäter, dazu zähle ich auch die, die mit Stangen aufeinander losgehen, zerstören unsere Hilfsbereitschaft und schaden massiv der überwiegenden Mehrheit von hochanständigen Flüchtlingen. Wichtig: Es bleibt Fantasie! Ich vertraue unserer Polizei und Justiz.)

Besonders freue ich mich in diesem Zusammenhang über den neuen Mut bei Frauen, diese Taten auch zur Anzeige zu bringen. Es könnte die gute Folge der Ereignisse von Silvester sein, dass die Frauen in unserem Lande gestärkt und noch mutiger daraus hervorgehen. Denn die Dunkelziffer sexueller Gewalt, auch in deutschen Familien, ist hoch. Jede Anzeige ist wertvoll.

Tagebucheintrag 58 – Furchtbar

Ich kann nicht mehr. Ich habe mich immer guten Mutes an den Laptop gesetzt, um meine Erfahrungen aufzuschreiben, aber die emotionale und moralische Dimension der Ereignisse, die schiere Menge an Katastrophen und all der Hass entmutigen mich. Ich sitze und tippe einen Gedanken. Ich lösche ihn wieder, zu rechts. Ich überlege, tippe wieder. Löschen, zu links. So geht es weiter mit den Löschgedanken „zu dumm“, „zu einseitig“, „zu harmlos“, „zu ahnungslos“. Aufmerksamen Lesern ist vielleicht aufgefallen, dass ich den gesamten Dezember über geschwiegen habe. Es ging einfach nicht. Die Gespräche mit der Politik, mit Nachbarn, das verbale Prügeln mit Rechts-Trollen auf Facebook: All das hat mir meine Grenzen aufgezeigt. Ich glaubte an das Wort. An das Gespräch. Aber oft musste ich feststellen, dass es überhaupt nicht um Dialog ging. Die meisten Menschen hören nur zu, um sich eine geile Antwort zu überlegen. An ihrer Meinung lassen sie keinen Deut rütteln. Stattdessen werde ich sehr persönlich dafür beschimpft, dass ICH die Flüchtlinge nach Deutschland geholt hätte, dabei habe ich bereits im Juli 2015 vor den Problemen gewarnt, als alle noch am Jubeln waren!

Die Politik wiederum zieht gnadenlos ihre Planung durch und macht nur der härteren Initiative „Gemeinsam in Poppenbüttel“ kleine Zugeständnisse. Überhaupt empfinde ich es als ein gewisses Scheitern, dass auch wir in Poppenbüttel jetzt zwei Initiativen haben, weil einige Betroffene das Wirken von „Poppenbüttel Hilft“ als zu zögerlich und im Zweifel wohl auch zu links empfunden haben. Das alles hat mir die Kraft geraubt. Scheitern, weil man zu nett ist. Das tut weh.

Tagebucheintrag 59 – Manneken Pis

So, das neue Jahr hat begonnen, der Pachtvertrag des Bauern ist abgelaufen, jetzt müssten doch theoretisch die Bauarbeiten losgehen. Ich spaziere mal wieder an meinem geliebten Feld entlang, möchte Abschied nehmen, bin aber auch neugierig auf die Bagger. Doch, Pustekuchen, nix ist passiert! Obwohl schon zwei Wochen vergangen sind, liegt das Feld still und schweiget. Ist es vielleicht zu kalt, oder schwebt noch ein Verfahren, von dem ich nichts weiß?

Plötzlich sehe ich einen typischen Poppenbüttler im Knick stehen: Zweite Lebenshälfte, Funktionskleidung und eine ohrenschützende Schirmmütze, die auf eine gewisse Todesverachtung in Modefragen hindeutet (jaja, mein Outfit ist auch diskutabel …). Was mich fasziniert: Dieser gediegene Poppenbüttler Bürger pieselt leise in den Schnee. Das ist nicht so meins, aber ich denke, es ist okay, wenn wir Männer hin und wieder diesen einzigen verbliebenen Vorteil gegenüber dem weiblichen Geschlecht ausspielen. Also, Wasser marsch, mein Freund! Allerdings geht mir an diesem bedeutungsschwangeren Feld gleich ein ganz anderes Bild durch den Kopf: Was wird los sein, wenn in ein paar Monaten dunkelhäutige Männer in diesem Knick das Gleiche tun?

Tagebucheintrag 60 – Ist das Politik?

Ich sitze im Café und lese das Abendblatt, da spricht mich eine Frau an: „Sind Sie nicht …?“. Ja, der bin ich wohl. „Haben Sie das eben gelesen? Jetzt sollen nur noch 130 Wohnungen auf unser Feld am Poppenbütteler Berg gebaut werden!“ Die Frau hat recht, mir war eben auch fast das iPad aus der Hand gefallen. Was sie übersehen hatte: Neben der 130 glitzerte ein kleines Sternchen: „zusätzlich“. Dieser Zahlen-Trick der Bezirkspolitiker nervt mich schon länger: Im Sommer hatte der Senat 170 Wohnungen für ca. 800 Flüchtlinge bei uns geplant. Diese wurden bisher nicht gebaut, weil ja der Landwirt noch bis zum 31. Dezember 2015 einen Pachtvertrag hatte. Im Oktober dann wurden die 5600 Expressbau-Wohnungen für Flüchtlinge beschlossen (das Abendblatt berichtete), von denen mein Bezirk Wandsbek 900 übernehmen sollte. 400 am Rehagen, 300 an den Müllbergen, 70 in Jenfeld und 130 bei uns – zusätzlich! Und bei dieser Zahl 130 bleibt es seitdem, als würden die ursprünglichen 170 Wohnungen bereits stehen. Hier noch mal ganz deutlich: Bei uns sind 300 Wohnungen geplant, 170 PLUS 130, alles andere ist Zahlenspielerei!

Überhaupt die Zahlen: Am Anfang sollten wir 560 Flüchtlinge in Modulhäusern (gestapelte Container mit Dach) bekommen. Aufregung in Poppenbüttel, die CDU munkelt, dass 1000 kommen. Dann neue Aufruhr: es kommen 800 in 170 festen Wohnungen. Möglicherweise zusätzlich zu den Modulhäusern. Das wären dann 1260 Menschen, wer weiß. Dann der Schock: jetzt 300 Wohnungen. Ich schrieb einen Brandbrief, weil ich glaubte, dass das zu viel wäre, aber der Beschluss steht. 300 Wohnungen wären bei einer Belegung von 5 Personen 1500 Menschen. Als dann das Gerücht die Runde macht, die Modulhäuser kämen noch obendrauf und wir wären damit bei 2060 Personen, geben die ersten auf und halten das nicht mehr für integrierbar. Zu guter Letzt verstehen einige bei einer Bezirksversammlung, dass die Wohnungen mit sieben Flüchtlingen belegt werden! Das wären dann in den Festbauten bereits 2100, zusammen mit den Modulbauten annähernd 3000!

Jetzt platzt hier vielen der Kragen. Ich versuche händeringend von Politikern aus Bezirk und Bürgerschaft die Zusage zu bekommen, dass es bei der „Obergrenze“ von 1500 verbindlich bleibt, was sich die zuständigen Politiker aber angesichts der Notlage und einer ungewissen Zukunft nicht zu versprechen trauen. Seitdem geistert die Zahl 3000 durch Poppenbüttel und ich kann mangels Rückenwind aus der Politik leider nicht widersprechen. Ist das Politik? Dieses Gewürge? Als kleine Pointe kommen zunächst die ganz am Anfang geplanten 560 Flüchtlinge in Modulhäusern (s.o.). Aha.

Gestern dann erhalte ich plötzlich eine E-Mail von der neuen Initiative „Gemeinsam in Poppenbüttel“ (GiP) mit dem Bebauungsplan von Senat und Bezirk in der endlich die fünf Personen im Durchschnitt pro Wohnung bestätigt werden. Die Leute von GiP sind etwas härter und bestimmter als ich, die haben die Obergrenze von 1500 bekommen. Ich bin ein wenig eifersüchtig.

Tagebucheintrag 61 –

Der abgesagte Bürgerkrieg

Es ist mal wieder Großkampftag. Die Bebauungspläne sollen in unserer großen Olympiahalle am Carl-von­- Ossietz­ky-Gymnasium vorgestellt werden. Beide Initiativen kündigen an, dass es noch einmal hoch hergehen wird und fordern eine hohe Präsenz ihrer Mitglieder. Ich bekomme Angst und sage scherzhaft zu Nachbarn: „Na, am Dienstag auch beim Bürgerkrieg dabei?“ Das ist natürlich satirisch überzeichnet, aber die Angst davor ist echt. Ich überlege drei Tage hin und her, ob ich hingehe, oder nicht. Ob ich mich an den Stand unserer Initiative „Poppenbüttel Hilft“ (PH) stelle und die möglichen Angriffe aushalte.

Der Eindruck der Online-Beschimpfungen, dass ICH die Flüchtlinge nach Deutschland geholt hätte, ist noch zu frisch. Dann das Wunder von Edeka: An der Kasse spricht mich eine Frau mit unglaublich sympathischen Augen an, sie sei die Sprecherin von „Gemeinsam in Poppenbüttel“(GiP). Wir zahlen und gehen in Richtung Autos, und da ich als Mann nicht gleichzeitig gehen und reden kann, bleiben wir plaudernd stehen. Es werden anderthalb Stunden in klirrender Kälte, aber mit viel menschlicher Wärme. Das soll mein Bürgerkrieg sein, vor dem ich Angst habe? Im Grunde sind wir uns in der Analyse einig, dass unsere Flüchtlingseinrichtung viel zu groß wird. Der Unterschied ist eher ein zeitlicher: GiP möchte von vornherein die Zahl senken, um die Integration hinzubekommen. PH macht sich eher Gedanken über die Zeit danach, wie man den (hoffentlich „nur“) 1500 Menschen helfen kann, um die Integration hinzubekommen. Beide Male endet der Satz mit „…um die Integration hinzubekommen!“ Mein altes Feuer entflammt wieder! Vielleicht gibt es doch keine Spaltung in Poppenbüttel! Jetzt habe ich die Kraft, um heute Abend zu dieser Veranstaltung zu gehen. Ich will da sein, um den Bürgerkrieg zu verhindern, für meine Initiative, aber auch für die nette Frau von GiP und vor allem für Poppenbüttel (Pathosanfall Ende).

Ich erscheine eine halbe Stunde vorher, um unseren Stand mit aufzubauen. Begeistert sehe ich einen Wald aus Stellwänden und fühle mich wie in einer Ausstellung. In der Mitte steht ein Modell der geplanten Siedlung und an den Stellwänden haben Politik, Polizei, „fördern und wohnen“, HVV und natürlich unsere Initiativen Schautafeln aufgehängt. Ein tolles Konzept. Die Menschen laufen herum, können mit allen Experten Privatgespräche führen. Plaudern und streiten untereinander. Es ist eine tolle Geräuschkulisse wie auf einer Party. Anregend, kontrovers, aber sehr friedlich.

Wie das Leben so spielt, betreut dieses Konzept ein Mitschüler von mir am GOA! „Nein! XY! Was machst du denn hier?!“ Er erklärt mir, dass man dies „Informationsmarktplatz“ nennt. Das leuchtet mir ein und gefällt mir sehr. Wie auf einem Marktplatz stehen wir Poppenbütteler alle zusammen und reden. Reden! Miteinander! Wirklich sehr gut das Ganze.

Dann allerdings kommt der zweite Teil der Veranstaltung und damit wieder die graue Realität des Frontalunterrichts. Zwei Leinwände, Mikrofon, Powerpoint-Präsentation. Ich möchte dennoch den Mut der Menschen vom Bezirk, „fördern und wohnen“, dem Architekturbüro und der Sozialbehörde loben, sich den Fragen der Anwohner zu stellen. In der anschließenden Fragerunde werden die Vertreter der Stadt noch ein wenig „gegrillt“ und ja: Manch Zuschauer pöbelt dazwischen. Aber warum soll man nicht mal laut „das war nicht die Frage“ brüllen? Ich war selbst einmal auch kurz davor. Die Nebelwerfer der Politik sind echt zermürbend. Ein Beispiel: Der Vertreter von „fördern und wohnen“ erklärt, dass rechtlich 15 Quadratmeter pro Person in Folgeeinrichtungen bindend seien. Darauf fragt ein Zuschauer den Architekten, wie viel Quadratmeter denn insgesamt geplant würden. Der Architekt kann das leider noch nicht sagen (wieso eigentlich nicht? Wegen der Bauplanung sind wir doch hier!) und fragt, warum das denn gefragt würde. „Weil wir alle rechnen können“, pöbelt einer von hinten ohne Mikrofon. Wer will es ihm verdenken! Ich feiere jetzt schon den Tag, an dem die Verantwortlichen aufhören, Nebelkerzen zu schmeißen. Nun ja.

Aber dennoch gefällt mir der Mann von „fördern und wohnen“ sehr gut. Er zeigt ehrliche Leidenschaft für Integration, er kämpft, er sagt: „Liebe Leute, glauben Sie mir, wir sind die Letzten, die eine zu hohe Belegung der Einrichtung wollen! Wir müssen dann doch unter diesen Umständen arbeiten! Wir wissen, was das bedeuten würde! Es muss bei höchstens fünf Flüchtlingen pro Wohnung bleiben!“

Ich glaube ihm. „fördern und wohnen“ wird fünf Vollzeitstellen auf unserem Gelände schaffen mit verteilten drei oder vier Büros. Die haben den ganzen Laden im Blick und sind immer da. Dies ist tatsächlich mal ein Argument für die 300 Wohnungen. Bei einer großen Einrichtung bekommt man auch große Betreuung. Ich komme ins Grübeln.

Mein zweiter Held ist ein höherrangiger Polizist, der heute auch da ist. Die Leute greifen die Polizei hart an, weil sie Angst vor Vergewaltigungen haben, was man angesichts der Silvester-Katastrophe verstehen kann. Und nachts hat die Wache nur zwei Streifenwagen im Einsatz. Der Polizist bleibt beeindruckend ruhig. Ich mag Polizisten. Er erklärt sehr klar: Ja, von Mitternacht bis fünf Uhr gibt es nur zwei Streifenwagen, weil in Poppenbüttel um diese Uhrzeit (bisher) nichts passiert. Diese allerdings könnten ja sofort Verstärkung aus der restlichen Stadt anfordern. Die übrige Zeit ist die Wache voll besetzt. Diese Belegung wurde anhand des derzeitigen Bedarfes entwickelt und kann jederzeit an eine neue Situation angepasst werden. Die Polizei ist da sehr aufmerksam und aktualisiert ständig die Lage. Außerdem wird die Polizei jeden (!) Tag in die Einrichtung gehen und „fördern und wohnen“ nach den Einwohnern befragen. Sollte es problematische junge Männer geben, wird die Polizei sofort ihre Strategie anpassen. Dies wie gesagt täglich und immer aktuell. Außerdem fordert er auf, jederzeit mit Sorgen unverzüglich an die Polizei heranzutreten.

Ich weiß nicht, einige murren immer noch, aber mich hat das restlos überzeugt. Ich kann es in diesen Zeiten nicht oft genug sagen: Ich vertraue der Polizei. Ich kann nur empfehlen, mal ein Gespräch mit irgendeinem Polizisten zu führen. Die, die ich kennenlernen durfte, haben einen so klaren Blick auf das Leben, können so geradeaus denken, dass ich als Künstler-Wirrkopf immer beeindruckt bin.

Und so geht es mir, obwohl die Veranstaltung sehr emotional war und wir alle wieder grübelnd und still nach Hause gegangen sind, nach diesem Abend besser. Der Polizist, der Mann von „fördern und wohnen“, die nette Sprecherin von GiP und natürlich auch die schöne Stimmung bei „Poppenbüttel Hilft“ haben mir meine Kraft zurückgegeben. Es ist wie ein Wunder: Ich klappe den Laptop auf und fange an zu schreiben. Und ich traue mich sogar was: Nach einigen Zögern verlässt ein Satz meine Finger, der zurzeit sehr unpopulär ist: Wir schaffen das ...

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