Tag 44 – Interview mit ZDF-Info
Hui, ist das aufregend: Unsere Künstler-Agentur, die LaLeLu vermittelt, hat angerufen: Ich werde für ein TV-Interview angefragt. Fühlt sich merkwürdig an: Zunächst ist da die Eitelkeit, die in mir Fandango tanzt. Aber je länger der Tag voranschreitet und die Endorphine abgebaut werden, desto lauter werden die verzagten Stimmen in mir: Wem, außer meiner Eitelkeit, dient so ein Interview? Ich erwäge sehr stark, abzusagen. Doch dann besinne ich mich auf den nach wie vor nicht abreißenden Zuspruch durch die Menschen hier in Poppenbüttel, in ganz Hamburg per Mail und in der Metropolregion Hamburg nach unseren Konzerten (zuletzt in Pinneberg habe ich am CD-Tisch viel warmen Dank erhalten). Ich spüre: Es bleibt wichtig, freundlich auszusprechen, dass wir vor einer großen Aufgabe stehen und dass die direkt betroffenen Anwohner nicht vergessen werden dürfen.
Also nehme ich das Interview mit schlotternden Beinen an. Homestory. Au weia. Die Redakteurin ist sehr sympathisch und wohltuend gut vorbereitet. Nur der Abwehrkampf gegen die Macht der Bilder nervt! Gefühlte hundert Male muss ich erklären, dass ich bei den Innenaufnahmen keine Vorgarten-Details draufhaben möchte und bei den Außenaufnahmen keine Direktaufnahmen unserer Häuser. Mit der Agentur waren lediglich Aufnahmen von 20 Minuten auf dem Rapsfeld abgesprochen. Jetzt werden es vier Stunden mit zusätzlichen Szenen an unserem Esstisch.
Wie gesagt, das ganze Team ist hochsympathisch, aber die Respektlosigkeit, mit der sie mich als Informationsware behandeln, ist schwer auszuhalten. „Können wir nicht vielleicht doch im Innenhof …?“ NEIN, verdammte Axt!! Als ich moniere, dass wir fast bei vier Stunden sind, kriege ich die Antwort: „Für mich ist das auch schlecht, ich habe eigentlich gleich einen Drehtermin in Jenfeld“!
Jetzt platzt mir der Kragen: „Junge Frau!“, sage ich, „es gibt einen großen Unterschied zwischen uns beiden: Für Sie ist dies Arbeitszeit, für mich war das hier gerade meine Freizeit!!“
Ich verabschiede die sehr netten, aber übergriffigen Fernsehleute und rufe meine Agentur an:
Ich mache gerne Interviews, wo auch immer, aber nie wieder eine Homestory.
Tag 44 (zweite Tageshälfte) – Fernsehinterview Unterbrechung
Während wir vor dem Rapsfeld, auf das unsere Flüchtlingsunterkunft gebaut werden soll, drehen, kommt aus dem Hintergrund eine Frau angeschlichen. Sie versucht verzweifelt das gnadenlose Auge der Kamera zu umkurven. Und sie ist sehr zornig. „Wissen Sie eigentlich, dass, während Sie hier drehen, heimlich beschlossen wurde, die Zahl der Flüchtlinge von 500 auf 1200 zu erhöhen?“ Sie spricht mit dem Kamerateam, als seien die Teil der Regierung. Die Redakteurin wittert einen Scoop und bittet die Frau, vor die Kamera zu treten, doch sie ist standhafter als ich und weigert sich. Ich darf sie immerhin zitieren. Auch ich bin sauer: Seit Monaten kämpfe ich dafür, dass wir Poppenbütteler unsere – wie ich finde – solidarische Pflicht annehmen und mit der Preisgabe eines Teils unserer Idylle ein Opfer für die Gesellschaft bringen, da wird einfach so mir nichts dir nichts alles über den Haufen geworfen. Die Frau bekennt offen, dass dies bei ihr eine ziemliche Politikverdrossenheit erzeugt. Finde ich ein bisschen auch. Politik muss verlässlich sein. Ich ärgere mich am meisten darüber, dass jetzt alle bestätigt sind, die schon seit Monaten sagen: „Da kommen sowieso 3000, die Politiker lullen uns nur ein!“ Diese Kritiker blenden zwar aus, dass die Politiker das nicht aus Böswilligkeit machen, sondern weil der Druck der Menge der Asylsuchenden so groß geworden ist, aber an dem Bruch des Versprechens gibt es nichts zu deuteln. Ich fühle mich auch etwas verar…!
Als die Frau weg ist, sage ich das auch wörtlich in die Kamera, ohne Punkt-Punkt-Punkt. Hoffentlich senden die nicht nur diesen Teil.
Tag 45 – Brandbrief an den Bezirk
Es lässt mich nicht los: Die Stadt verdoppelt nur eine Woche nach der Informationsveranstaltung die Wohnungsanzahl?
Ich informiere mich und erfahre, dass die Erweiterung der Festbauten auf 300 Wohnungen tatsächlich stimmt. Morgen um 18 Uhr wird die Bezirksversammlung das beschließen.
Die Idee ist, dass diese zusätzlichen Festbauwohnungen auf einem neuen Baufeld neben den zunächst zu errichtenden Modulhäusern entstehen, die Bewohner der Modulhäuser bei Fertigstellung dann dort einziehen und dann auf dem frei gewordenen Platz die schon früher geplanten Festbauten entstehen.
Soll heißen: Der Bau der neuen Festbauten beginnt zeitgleich mit dem der Modulhäuser.
Immerhin schließt dieser Plan eine logische Lücke, die mich schon die ganze Zeit beschäftigt: Wie will man Häuser auf einem Areal bauen, das mit Wohncontainern belegt ist? Die neue Antwort: gar nicht, man baut sie halt daneben. Diese Logiklücke nährt in mir allerdings den Verdacht, dass das schon länger so geplant war. Man merkt: Auch mein Vertrauen in die Politik ist durch diese neue Entwicklung angefressen worden.
Das Gerücht spricht sich rum, überall in unserer Nachbarschaft schwellen die Zornesadern und wird mit der Politik im Allgemeinen gebrochen. Die Menschen sprechen sehr böse. Ich mache mir Sorgen um meine Leute. Ich muss handeln. Irgendwofür muss meine Miniprominenz mit diesen Tagebüchern ja gut sein. Ich verfasse einen Brandbrief an den Bezirk und schicke ihn über alle mir zur Verfügung stehenden Kanäle an die Politiker in der Bezirksversammlung Wandsbek:
„Liebes Bezirksamt Wandsbek,
mit Schrecken habe ich gestern erfahren, dass heute Abend in der Bezirksversammlung beschlossen werden soll, unsere für 2020 geplanten Festbauten nach §5 auf dem Feld Ohlendiek/Poppenbütteler Berg um 130 Wohnungen auf 300 aufzustocken. Mich schreckt dabei vor allem die Art der Politik: Noch vor einer Woche auf der Informationsveranstaltung haben Sie sich in Nebel gehüllt, was die Zukunft angeht, und immer nur von den Modulhäusern mit 500 Menschen gesprochen.
Und schon eine Woche später ist das Makulatur?
Ich beschwöre Sie inständig, diese Entscheidung heute NICHT zu treffen!
Wir haben hier in Poppenbüttel mit viel Mühe einen fragilen Konsens über die 170 Wohneinheiten und die Modulhäuser hinbekommen. Zähneknirschend und murrend bei vielen, aber mit Einsicht.
Wenn Sie jetzt diesen neuen Beschluss fassen, zerstören Sie diese Arbeit hier im Stadtteil.
Die Leute, die mich ansprechen, weil das Gerücht die Runde macht, sind extrem sauer und enttäuscht. Sie fühlen sich belogen und betrogen.
Hier wird Politikverdrossenheit oberster Güte erzeugt, und ich vermag mir die Spätfolgen dieses Vertrauensverlustes gar nicht auszumalen … Sie verlieren hier die Leute. Mit besorgten Grüßen Jan Melzer.
Wenn jetzt der Bezirk diese Entscheidung trotzdem trifft, kann ich wenigstens ruhigen Gewissens sagen, ich habe gewarnt. Ich musste es versuchen.
Tag 46 – Die Entscheidung
Die gute Nachricht: Diverse Politiker haben mir geantwortet, ich habe eine Gesprächseinladung von der Fraktionsvorsitzenden im Bezirk, und der Bezirksamtsleiter ist tatsächlich zerknirscht. Wir führen einen kurzen, aber herzlichen und sensiblen Mail-Dialog. Die schlechte Nachricht: Der Bezirk beschließt die erhöhte Bebauung. Mmh, ein bisschen entmutigend. Allerdings hoffe ich in meinem unverwüstlichen Optimismus, dass meine Warnung im Hinterkopf bleibt, dass sie im Bezirk jetzt trotzdem wissen, dass dies wirklich das Ende der Fahnenstange ist. Bei noch einem Vertrauensbruch verlieren sie auch mich.
Tag 47 – Der anonyme Brief
Normalerweise ignoriere ich anonyme Zuschriften, denn ich finde: Eine Meinung, zu der man nicht steht, ist keinen Pfifferling wert. Ich möchte dennoch den Brief „einer Nachbarin“ herausgreifen, weil der Anlass der Anonymisierung so nichtig ist (und ich sie mit der Veröffentlichung milde dafür bestrafen möchte).
„Eine Nachbarin“ schrieb mir: „Ihre Tagebücher haben mich sehr berührt, gerade weil Sie beide Seiten darstellen, die Sorge um die Veränderung und den Willen/die Verpflichtung zu helfen. Sehr berührt hat mich aber auch Ihre Naivität. Haben Sie wirklich ernsthaft geglaubt, es kommen „nur“ 500 Menschen und alles Familien aus Syrien?“ Unterschrieben war der Brief mit „eine Nachbarin“, und sie hatte ihn mir anscheinend bei Nacht und Nebel heimlich in den Briefkasten gesteckt. Ganz schön viel Aufwand für den Vorwurf der Naivität!
Wirke ich so furchterregend, dass man mir so einen niedlichen Vorwurf nicht ins Gesicht sagen kann? Wie tief sitzt bloß die Angst bei einigen? Dabei verletzt mich dieser Angriff gar nicht. Nein, ich WEISS, dass ich naiv war. Und vielleicht immer noch bin. Und, wissen Sie was, liebe „eine Nachbarin“? Das ist Absicht! Bitte verwechseln Sie nicht Naivität mit Dummheit. Natürlich war mir von Anfang an bewusst, dass das Feld rein räumlich locker 3000 Flüchtlinge aufnehmen kann (was eine Katastrophe wäre!). Ich möchte nur einfach nicht – und das ist vielleicht eine Typfrage – von vornherein von dem Schlimmsten ausgehen. Ich möchte nicht mein Leben in Angst und Zorn verbringen und entscheide mich deshalb für den Positivismus. Optimismus. Ich habe sehr genau beobachtet, wie die immer wieder von unserem CDU-Abgeordneten in die Nachbarschaft gestreuten Horrorzahlen die Menschen unglücklich gemacht haben. Und: Ja, er hat recht behalten, ich war naiv. Dennoch glaube ich, dass es nichtsdestotrotz besser ist, den Menschen und der Welt mit Vertrauen zu begegnen und sich den Problemen zu stellen, wenn sie da sind. Und nicht von vornherein in düsterer Vorahnung zu versinken. Das würde mir den Tag versauen. Genauso naiv hoffe ich weiterhin auf die syrischen Familien. Bisher habe ich nichts Gegenteiliges gehört.
Tag 48 – Der rechte Mainstream
Ich veröffentliche meine Abendblatt-Tagebücher mittlerweile nachträglich als Blog, und da das Internet ein Ort der Maßlosigkeit ist, habe ich mit rechter Hetze gerechnet. Es bleibt zunächst aber alles freundlich im Ton. Dennoch scheint immer wieder der Grundtenor des rechten Mainstreams durch: Lügenpresse, Meinungsdiktat, Untergang des Abendlands, Genozid (!) am deutschen Volke. Mir wird immer wieder direkt unterstellt, manipuliert zu sein, sonst würde es gar nicht in der Zeitung zu lesen sein. Das sind so typische selbsterfüllende Prophezeiungen wie der (allerdings alt-linke) böswillige Satz „Wenn Wahlen etwas bringen würden, wären sie verboten.“ Vorsicht, von solchen Sätzen gibt es viele, und man erkennt sie daran, dass sie sich selbst bestätigen und Widerspruch automatisch für illegitim erklären. Eine beliebte Methode ist zum Beispiel, Widerspruch mit „Meinungsfreiheit“ zu ersticken. Hier vielleicht ein kleines polemisches Beispiel zur Anschauung: Rechtspopulist: „Hitler war ein sympathischer Mann“, ich: „Na ja, er war schon auch ein Massenmörder …“ Rechtspopulist: „Ach, ich dachte, in diesem Land gilt immer noch die Meinungsfreiheit?!“ Der Trick: Hier wird Meinungsfreiheit als das Herausposaunen von Thesen umgedeutet. Dass Widerspruch AUCH zur Meinungsfreiheit gehört, Rede und Gegenrede ein normaler demokratischer Vorgang sind, wird geflissentlich ausgeblendet.
Tag 49 – Podiumsdiskussion
Ich und meine Neugier, ich kann einfach nicht Nein sagen. Diesmal eine Anfrage der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zu einer Podiumsdiskussion. Das Thema ist „Heimat und Vielfalt“, und ich möchte wissen, wie so was ist. Nun habe ich mit der CDU ja gewisse Berührungsängste, aber ich werde angenehm enttäuscht: Jedes Wort auf dem Podium kann ich unterstreichen: Es geht in unserem Land schlicht darum, Willkommenskultur und Realitätssinn zu verbinden. Dazu kommen zwei beeindruckende CDU-Experten mit Migrationshintergrund, die sehr detailreich über die Schwierigkeiten, aber auch Chancen der Integration, die Notwendigkeit des Erlernens der deutschen Sprache und die bereits erreichten guten Strukturen im Bereich Einwanderung erzählen konnten. Chapeau, das gefällt mir.
Doch plötzlich werde ich links überholt: Ich spreche als Vertreter der Anwohner gerade darüber, dass eine zu große Menge junger Männer in den Flüchtlingsheimen den Anwohnern Angst macht, weil zu viel junges Testosteron auf einem Haufen ungut ist (man denke nur an die Hooligans), da springt ein Syrer auf: Mit dem Hooligan-Vergleich habe ich ihn verletzt, was ich verstehe. Ich versuche, den Vergleich auf Fußballrowdys im Allgemeinen herunterzubrechen, da springt die Moderatorin dazwischen und entzieht mir das Mikrofon. Wie bitte? Ich darf nicht mit einem Syrer über diese zentrale Frage der Angst diskutieren? Wozu sind wir denn hier? Mit unterdrückter Wut höre ich mir den Rest des Abends noch die vorbereiteten Statements der anderen an. Zum Glück darf ich noch ein Schlussplädoyer halten. „Was ist Ihr Ausblick für die Zukunft?“ Ich antworte: Ob wir in eine gute Zukunft schauen, hat auch damit zu tun, ob wir es schaffen, nicht nur die Migranten, sondern auch die besorgten und ängstlichen Deutschen zu integrieren. Wenn wir deren Ängste nicht annehmen und respektieren, dann blicke ich mit Sorge in die Zukunft.
Mit dem Syrer habe ich mich übrigens nachher noch großartig unterhalten. Wir haben uns umarmt. Hätte man uns ausreden lassen, hätten wir das zum Erkenntnisgewinn der Zuschauer bereits auf der Bühne getan. Ich verstehe die Moderatorin nicht.
Nach der Veranstaltung hat die Chefin der KAS etwas sehr Kluges gesagt, das ich hier unbedingt wiedergeben möchte: Sie hat den Eindruck, dass viele Menschen sich generell in der Moderne nicht mehr zu Hause fühlen und dass das Flüchtlingsthema eine Gelegenheit ist, dieses allgemeine Unbehagen endlich einmal gezielt loswerden zu können. Ein interessanter Gedanke.
Tag 50 – Alltag
Ich muss einen neuen Perso beantragen, weil mein alter abgelaufen ist. Auf dem Ortsamt stehe ich mit Migranten in der Warteschlange. Zwei von 15 Menschen wohlgemerkt, der Rest sind Deutsche. Poppenbüttel halt. Und während ich ein bisschen lausche, wie der eine ein neues Baby anmeldet und die andere aus irgendeinem Grund an die Botschaft ihres Landes verwiesen wird, fange ich an, über unseren Alltag nachzugrübeln. Wo sind die Flüchtlinge? Klar, in den Lagern und Umgebung sind sie natürlich vertreten. Auch im ICE treffe ich fast täglich welche an.
Hat sich mein Alltag verändert? Hat sich der Alltag von irgendjemandem verändert, der nicht entweder hilft oder direkt nebenan wohnt? Kann es vielleicht sein, dass sich für alle anderen so gut wie gar nichts verändert hat? Schöpft die ganze Aufregung nur aus der Nachrichtenlage? Ich will nichts beschönigen, die Flüchtlinge sind da, ich gehöre sogar zu denen, die mit zwei Millionen für dieses Jahr rechnen. Und dennoch kommt in mir die Frage auf, wie viele Menschen wirklich von dem Problem betroffen sind. Ist dieses Land vielleicht ein bisschen hysterisch? Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, darunter machen wir es nicht. Deutschland fehlt die Mitte. Ich möchte einmal ganz deutlich in alle politischen Richtungen sagen: „Die Einzigen, die in dieser Frage etwas leisten, sind die beruflichen und ehrenamtlichen Helfer und Organisatoren! Die Einzigen, die Opfer für die Flüchtlinge bringen, sind die Anwohner! Von allen anderen würde ich mir ein kleines bisschen mehr Bescheidenheit wünschen.“
Teil 7 des Tagebuchs finden Sie hier.
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