Am 18. Juli wird über eine Schulreform abgestimmt, die so weder GAL noch CDU wollten. Ein Lehrstück über Demokratie anno 2010.

Hamburg. Länger als zwei Jahre hält die Diskussion über die Primarschule die Stadt nun in Atem wie kaum ein zweites Thema. Der heftig geführte Streit über das Für und Wider des sechsjährigen gemeinsamen Lernens ist je nach Standort ein Drama, eine Tragödie oder ein Schauspiel mit hoffentlich gutem Ausgang. In jedem Fall - diese Bilanz lässt sich schon jetzt, sechs Wochen vor der entscheidenden Volksabstimmung, ziehen - ist die öffentliche Debatte und ihre Entwicklung ein Lehrstück darüber, wie Demokratie heute funktioniert.

Den ersten Schritt taten die Politiker im Rathaus. Das Abendblatt berichtete am 7. März 2008 exklusiv aus den schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen kurz nach der Bürgerschaftswahl, dass sich die Spitzen von CDU und GAL darauf verständigt hatten, "die Grundschule bis zum Ende von Klasse 6 zu verlängern". Noch hatte das Kind nicht einmal einen Namen. Der kam erst einen Monat später, als sich CDU und GAL auf die Grundzüge der größten Schulreform seit Jahrzehnten verständigt hatten.

+++ Schüler demonstrieren für die Primarschule +++

Doch die Primarschule, wie sie nach Schweizer Vorbild nun heißen sollte, trug einen schweren Geburtsfehler in sich. Sechs Jahre gemeinsames Lernen stand in keinem Wahlprogramm, und kein Hamburger hat sie insofern "gewählt". Mehr noch: Die Enquetekommission der Bürgerschaft zur Bildungspolitik, die sich über die Parteigrenzen hinweg mit ihren Vorschlägen Ansehen erwarb, hatte diese Idee ausdrücklich nicht aufgegriffen.

Stattdessen erwies sich die Reform mit ihren sechs Jahren als beinahe arithmetisches Mittel aus den bildungspolitischen Überzeugungen zweier Parteien, die kaum weiter voneinander entfernt sein können: Die Union - auch ihr Hamburger Ableger - war immer für die Trennung der Kinder auf die unterschiedlichen weiterführenden Schulen nach vier Grundschuljahren. Die Grünen mit der Hamburger GAL als Reform-Speerspitze verfechten dagegen seit Jahren das Konzept einer einheitlichen Schule für alle bis zur neunten Klasse ("Neun macht klug").

Vielen drängte sich der Eindruck auf, dass den Schulen aus koalitionspolitischer Räson eine weitreichende Reform übergestülpt wurde. Ein Kompromiss in der Schulfrage musste her, weil die GAL auf einem Einstieg in das längere gemeinsame Lernen bestand. Und die CDU, allen voran Bürgermeister Ole von Beust, wollte auf jeden Fall das schwarz-grüne Bündnis, das erste dieser Art auf Länderebene.

Die Primarschule wurde in Hamburg also "von oben" verordnet. Wer aus heutiger Sicht auf diese erste Phase zurückblickt, der erkennt die fehlende öffentliche Diskussion über Inhalte und Sinn als einen Grund für die Heftigkeit der Auseinandersetzung.

Den Takt der Kritiker gab der damalige Handelskammer-Präses Karl-Joachim Dreyer vor, der ein "strukturelles Chaos" voraussagte und von "Aktionismus" sprach. Kaum wahrgenommen wurde kurz darauf im Mai, dass vier Männer und eine Frau um den Rechtsanwalt Walter Scheuerl die Volksinitiative "Wir wollen lernen" gründeten. Ihr Ziel: die Primarschule per Plebiszit zu kippen und es beim bisherigen System der Trennung nach Klasse 4 zu belassen.

Die neue Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL), mit deren Namen die Reform in erster Linie verbunden ist, legte einen ausgesprochen ehrgeizigen Zeitplan vor, der ursprünglich sogar die flächendeckende Einführung der Primarschule zum laufenden Schuljahr 2010/2011 vorsah. Goetsch startete mit den Regionalen Schulentwicklungskonferenzen (RSK) ein bis dahin beispielloses Programm zur Beteiligung von Lehrern, Eltern und Schülern an den Planungen. Aber es ging nur um das Wie (zum Beispiel die Frage der Standorte), nicht aber das Ob der Reform. Die Diskussion über den Sinn des längeren gemeinsamen Lernens musste angesichts des Zeitdrucks zu kurz kommen.

So geriet schnell aus dem Blick, dass Hamburg mit der Primarschule Anschluss an den europäischen Standard sucht. Es gibt gute Gründe dafür, Schüler länger gemeinsam lernen zu lassen. Das jetzige System ist zum Beispiel sozial ungerecht: Die Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, ist für ein Kind aus bildungsnahem Elternhaus viermal höher als für ein Kind aus einer sozial benachteiligten Familie - bei gleichen Leistungen. Zwei Jahre zusätzlicher Beobachtung eines Schülers können eine sicherere Prognose über dessen Entwicklung ergeben.

Das Hamburger Konzept der Primarschule ist pädagogisch durchaus anspruchsvoll und innovativ: Es will nicht einfach die Grundschulzeit um zwei Jahre verlängern, sondern den Fachunterricht, wie ihn die weiterführenden Schulen kennen, schon in der vierten Klasse starten lassen. Dazu sollen Lehrer aus Gymnasien und Stadtteilschulen an die Primarschulen pendeln.

Die Volksinitiative "Wir wollen lernen" machte aber schon früh einen gravierenden Schwachpunkt der Reform aus: Schwarz-Grün wollte ursprünglich das Elternwahlrecht abschaffen, das Vätern und Müttern in Hamburg seit Jahrzehnten die Entscheidung darüber garantiert, ob ihr Kind auf das Gymnasium oder eine andere Schule wechselt, unabhängig von der Empfehlung der Grundschullehrer. Die Reform sah vor, den Wechsel auf das Gymnasium - verkürzt gesagt - von den Leistungen der Schüler abhängig zu machen.

Wie emotional bedeutend das Elternwahlrecht ist, machten die Primarschulgegner geschickt deutlich. Es war ein schweres Versäumnis vor allem von Goetsch, diese und andere Sorgen der Eltern nicht ernst genug genommen zu haben. Eine leidige Frage war zum Beispiel, wie das Angebot der zweiten Fremdsprachen an den Primarschulen gewährleistet werden kann. Goetsch hat ein ums andere Mal von "Detailfragen" gesprochen, die schon zur rechten Zeit gelöst würden. Eher Beschwichtigung als Überzeugung.

Auch politisch war das Projekt schwierig. Zwar steht die Primarschule im Koalitionsvertrag, den der CDU-Landesparteitag einstimmig abgenickt hat. Aber Teil der Diskussion ist ein von Beginn an vernehmbares, meist anonymes Murren aus der CDU.

Von Beust ersann einen Kunstgriff zur Disziplinierung seiner Partei: Er erklärte Ende 2008 durchaus glaubhaft, von der Primarschule persönlich überzeugt zu sein und die Reform nicht nur aus Koalitionsräson zu unterstützen. Gegen den Mann, dem sie in erster Linie die neun Jahre als Regierungspartei verdankten, wagte die große Mehrheit der Christdemokraten keinen Aufruhr.

Während die schwarz-grüne Koalition aus den genannten Gründen durchaus in die Defensive geraten war, verstand es die Initiative "Wir wollen lernen", die negativen Emotionen für sich zu nutzen. Vor allem Initiativensprecher Walter Scheuerl erwies sich als stets gut informierter, aber in der Auseinandersetzung auch wenig zimperlicher Agitator.

Kam der Widerstand gegen die Primarschule anfangs aus den wohlhabenderen Gegenden der Stadt und zumeist konservativen Kreisen, so griff der Protest bald auf das gesamte Stadtgebiet über. Die Abschaffung des Elterwahlrechts und eine allgemeine Reformmüdigkeit, ja ein Reformfrust an Schulen waren die Treibmittel.

Als die Initiative im Oktober und November 2009 auf Straßen und Plätzen um Unterschriften gegen die Primarschule warb, konnte sie auf ein Netz von Unterstützern im gesamten Stadtgebiet zurückgreifen. Das Ergebnis des Volksbegehrens war ein "Paukenschlag" (Ole von Beust), der den politischen Fahrplan völlig umkrempelte. Mit 184 500 Unterschriften hatte "Wir wollen lernen" die erforderliche Stimmenzahl um das Dreifache übertroffen.

CDU und GAL boten der Initiative Verhandlungen mit dem Ziel an, zu einem gemeinsam getragenen Reformkonzept zu kommen und so den Volksentscheid zu vermeiden. Was folgte, war ein quälender Prozess, der sich bis Anfang Februar hinzog und mit dem Scheitern aller Bemühungen endete.

Unter der behutsamen Vermittlung des Unternehmers Michael Otto bewegten sich beide Seite zwar, ohne allerdings den entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Die Koalition sagte die Erhaltung des Elternwahlrechts zu, streckte die Zeitplanung und erklärte sich bereit, die Einführung der Reform durch eine wissenschaftliche Kommission begleiten zu lassen. Diese Experten sollten im Extremfall die "Rote Karte" zeigen können und die Einführung der Primarschule damit stoppen, falls die Schulbehörde wichtige Zusagen wie die Klassengrößen nicht einhalten sollte.

Die Initiative wollte einen Schulversuch mit 50 Primarschulen zulassen, sodass ein Vergleich des alten mit dem neuen System möglich sein würde. Das System, das sich als überlegener erweisen würde, sollte am Ende eines mindestens dreijährigen Prozesses eingeführt werden.

Am Ende scheiterten die Gespräche daran, dass die Koalition an der flächendeckenden Einführung der Primarschule festhalten wollte, was die Initiative jedoch ablehnte. Das Scheitern der Verhandlungen setzte neue Energien aufseiten der Reformbefürworter frei. Mit einem Mal schien das Aus für das zentrale Reformwerk in fühlbare Nähe gerückt. Eine Pro-Initiative, die sich inzwischen "Die Schulverbesserer" nennt, wurde ins Leben gerufen. Mit dem früheren Harburger Bezirksamtsleiter Jobst Fiedler an der Spitze und der Unterstützung prominenter Mitstreiter wie Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi soll ein Gegengewicht zu den kampagnenerprobten Reformgegnern gesetzt werden.

Was mit der Scheuerl-Gruppe nicht gelang, holten CDU und GAL mit SPD und Linken in Rekordzeit nach: eine Einigung über die Reform. Anfang März beschloss die Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Schulgesetzes. Die SPD hatte durchgesetzt, dass das Büchergeld für Schüler wieder abgeschafft wird. Vor allem werden aber die Klassen der Primarschulen deutlich kleiner: Nur 19 Schüler sollen in sozialen Brennpunkten, in allen übrigen Gebieten 23, zusammen unterrichtet werden - bundesweiter Rekord. Das hat seinen Preis: Alles in allem wird die Schulreform mindestens 464 Millionen Euro kosten, wobei in erster Linie die erforderlichen Um- und Erweiterungsbauten an Schulen zu Buche schlagen. Außerdem werden 970 Lehrer zusätzlich eingestellt.

Mitte März meldete "Wir wollen lernen" die Abstimmung zum 18. Juli an. Deren Ergebnis wird verbindlich sein. Jetzt ist Wahlkampf, und es wird unter breiter Beteiligung das nachgeholt, was dem Streit über die Reform so lange gefehlt hat: die Diskussion über Inhalt und Sinn des längeren gemeinsamen Lernens.

So gesehen gibt es schon heute, bevor die Stimmen ausgezählt sind, eine Gewinnerin: die Demokratie.

Lesen Sie morgen PISA, Timms, Iglu - Bildungsstudien gibt es viele, doch die meisten haben eines gemeinsam: Hamburg schneidet schlecht ab. Teil 2 der Serie zur Schulreform gibt einen Überblick zu allen Studien.

Die Folgen im Überblick 1. Vorspiel; 2. Gute Schule, schlechte Schule; 3. So lernt Europa; 4. Was wäre, wenn? Zwei Szenarien; 5. Wo streiten sie denn?; 6. Vor Ort: Das Johanneum; 7. Vor Ort: Stadtteilschule Barmbek; 8. Streit der Experten; 9. Das Kreuz mit dem Kreuz; 10. Gipfeltreffen Goetsch - Scheuerl