Jürgen Oelkers von der Uni Zürich plädiert für sechs Jahre gemeinsames Lernen, Lehrerverbandspräsident Josef Kraus für vier Jahre.


Pro

Hamburg. Die Primarschule ist eine französische Erfindung, sie geht zurück auf ein Schulgesetz Napoleons aus dem Jahre 1802 und ist überall dort verwirklicht worden, wo dieses Gesetz Geltung gefunden hat, also bis 1815 auch in deutschen Ländern wie etwa der linksrheinischen Pfalz. Das ist natürlich heute vergessen, zeigt aber, dass auch die deutsche Schulgeschichte überraschende Varianten kennt.

Die hauptsächliche Schulform in Deutschland war bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Volksschule, die das darstellte, was heute von bestimmten Seiten verteufelt wird, nämlich eine Art Gesamtschule, die bis zu 90 Prozent der Schüler besucht haben. Führend in der Entwicklung der deutschen Volksschule nach 1871 waren die beiden Hansestädte Hamburg und Bremen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand in Hamburg im Übrigen wie in Berlin oder Bremen eine sechsjährige Grundschule, die erst 1957 aufgegeben wurde.

Die Schulentwicklung im 20. Jahrhundert hat in Deutschland allmählich ein dreigliedriges und, zählt man die Sonderschulen hinzu, sogar ein viergliedriges System eingeführt. Dieses System steht heute von zwei Seiten unter Druck. Einerseits werden die Schülerzahlen zurückgehen, in Ländern wie etwa dem Saarland sogar dramatisch; andererseits ist eine Grundforderung der europäischen Bildungspolitik die Integration und nicht die Exklusion, auf welche Weise sie auch geschehen mag.

Die demografische Entwicklung wird zur Anpassung zwingen, ob die Politik das nun will oder nicht. Die statistischen Prognosen sind gut gesichert und sollten mit strategischen Überlegungen zur Schulpolitik verbunden werden. Der europäische Trend zur Integration wird sich national sehr verschieden umsetzen lassen, aber er stellt ein normatives Gewicht dar, das auch in den deutschsprachigen Ländern zunehmend Beachtung findet.

Wenn heute im Hamburg eine Volksabstimmung über die Einführung einer sechsjährigen Primarschule bevorsteht, so ist das bildungspolitisch zu begrüßen. Solche Fragen, würde man in der Schweiz sagen, gehören "vors Volk". Sie berühren jeden Bürger unmittelbar und sollten vor der Abstimmung auch hart ausgefochten werden. Es schadet nichts, wenn die Gegensätze auf den Tisch kommen, Schulfragen sind immer Belange einer diskutierenden Öffentlichkeit, und die ist sich nie einig, sondern muss eine Lösung finden.

Allerdings sollte man überflüssige Aufgeregtheiten vermeiden, die sich oft nur deswegen anbieten, weil man die eigene Situation nicht mit der anderer vergleicht. Sechsjährige Primarschulen sind im europäischen Umfeld der Regelfall, die vierjährige deutsche Grundschule ist die große Anomalie. Achtjährige Gymnasien gibt es nur noch in Deutschland und Österreich. Im Kanton Zürich gibt es eine sechsjährige Primarschule seit 1832 und niemand hat je die Befürchtung gehabt, dass diese zwei Jahre "zu viel" seien und die Schwachen die Starken behindern. Wäre das so, dürfte Finnland nie PISA-Weltmeister geworden sein.

Von außen betrachtet ist an deutschen Bildungsdebatten zweierlei auffällig: Sie nehmen leicht die Form eines Kulturkampfes an und sie werden dominiert von den Interessen der Gymnasialeltern. Beides behindert die Problemlösung. Eine längere gemeinsame Verschulung fördert die leistungsschwächeren Schüler, aber behindert nicht notwendig die leistungsstärkeren, die im Übrigen keineswegs nur aus bürgerlichen Familien stammen. Entscheidend für den Erfolg der Kinder ist die Einstellung der Eltern zur Schule, und die ist umso schwächer, je früher man die Kinder deklassiert.

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Homogene Leistungsgruppen fördern nur die Leistungsstarken, und auch das nur dann, wenn die Schule starke Lernanreize bietet. Es ist keineswegs so, dass die Gymnasien über die beste Unterrichtskultur verfügen; sie werden aus sozialen Gründen gewählt und weil es keine Alternativen gibt. Wo vor Ort gut entwickelte Integrierte Gesamtschulen bestehen, kann die Wahl auch von Gymnasialeltern durchaus anders ausfallen. Die Bedingung ist, dass sich mit der Schulwahl kein Abstieg verbindet und sich die konkreten Chancen für ihre Kinder verbessern.

Solange sich gar nichts anderes anbietet als das Gymnasium, droht immer ein Kulturkampf. Deswegen ist die zentrale Frage der gesamten Schulreform in Deutschland, ob sich eine starke zweite Säule entwickelt, die den Gymnasien ernsthaft Konkurrenz macht, weil bestimmte Eltern genau dieses Angebot nachfragen und die Schulen mit ihrer Ausbildung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt versprechen, etwa weil frühzeitig der Kontakt mit dem Berufsfeld hergestellt wird und gleichwohl das Abitur gemacht werden kann.

Im Gymnasium kann man nur Abitur machen oder frühzeitig herausfallen. Je mehr Schüler diesen Weg einschlagen, desto schwieriger wird es, die gymnasiale Bildungsqualität zu halten. Wenn alle ins Gymnasium streben, fallen viele unterwegs heraus und es entsteht, was eigentlich verhindert werden sollte: eine Schule, die ihre historische Form bewahrt, aber viele Schüler hat, die genau damit überfordert sind. Dann kann man nur das Niveau senken oder die innere Selektion verschärfen.

Was also in Hamburg zur Abstimmung steht, ist nicht der Einstieg in den Untergang des deutschen Gymnasiums, sondern ein zukunftsfähiges Schulmodell, das der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft gerecht zu werden vermag und den Eltern mehr als nur eine Wahl lässt. Daher geht es eigentlich um die Akzeptanz einer gut entwickelten zweiten Schulform, die auf der Primarschule aufbauen kann, ohne die Perspektive einer "Restschule" zu bieten. Die Gymnasien brauchen wirksame Konkurrenz, gerade weil sie so mit der deutschen Bildungsidee verwoben sind.

Kontra

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Übergangs eines Kindes von der Grundschule in eine weiterführende Schule ist eindeutig beantwortet: Im zehnten/elften Lebensjahr ist die Eignung eines Kindes für eine Schulform und - umgekehrt - die Eignung einer Schulform für die Förderansprüche eines Kindes solide einschätzbar. Diese Einschätzung gelingt zu keinem späteren Zeitpunkt besser - schon gar nicht, wenn sich die Heranwachsenden in der Vorpubertät befinden. Mehr noch: Ein um zwei Schuljahre verzögerter Übertritt provoziert eine Unterforderung Gymnasialgeeigneter in den Klassen 5 und 6 sowie eine Überforderung der für ein Gymnasium eher nicht Geeigneten. Damit leiden die Leistungen aller Schüler. Dies gilt gerade für das Modell der vorgesehenen sechsjährigen Primarschule, weil diese, anders als etwa die Gesamtschulen in Hamburg, noch nicht einmal eine äußere Leistungsdifferenzierung kennt.

Namhafte Studien sagen: Sechsjährige Grundschule bringt nichts. Berlin und Brandenburg mit einer sechsjährigen Grundschule gehören zu den PISA-Verlierern. All dies könnte nicht überraschen, wenn man den gerade von Vertretern egalisierender Schulpolitik gerne zitierten Heinrich Roth zur Kenntnis genommen hätte. Dieser hatte 1968 geschrieben: "Die Denkbegabung und das Denkbedürfnis bricht im zehnten/elften Lebensjahr in so verschiedenen Stärken durch, dass die Unterschiede im Grad der allgemeinen Begabung das Auffälligste sind, was man in diesem Alter betrachten kann ... Im Interesse der Höchstausbildung aller Begabungsgrade kommen wir um die Trennung nach dem Grad der Begabung im zehnten/elften Lebensjahr nicht herum."

Diese Urteile setzen sich fort. Peter Roeders (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin) Fazit lautet 1997: "Die Leistungen nach sechsjähriger Grundschule liegen erheblich unter denen von Schülern, die den Wechsel aufs Gymnasium bereits nach der 4. Grundschulklasse vollzogen haben." Kurt Heller (Ludwig-Maximilians-Universität München) stellt seit 1999 regelmäßig fest: "Eine Verlängerung der vierjährigen Grundschule würde keine erkennbaren Vorteile, wohl aber mit Sicherheit Nachteile für viele Grundschüler mit sich bringen. Diese betreffen nicht nur Leistungsaspekte, sondern tangieren die gesamte Persönlichkeitsentwicklung."

Kaum anders die Element-Studie von Rainer Lehmann (Humboldt-Universität Berlin) von 2008. Hier lauten die Ergebnisse: Der Rückstand am Ende der 6. Grundschulklasse beträgt im Lesen eineinhalb Jahre, in Mathematik und Englisch zwei Jahre (im Vergleich mit Schülern, die nach der 4. Klasse in eine weiterführende Schule gehen). Zwei Extrajahre Grundschule bringen zudem keinerlei Abbau sozialer Disparitäten. Die soziale Schere öffnet sich sogar noch weiter. Selbst der Lehmann-Kritiker Jürgen Baumert räumt ein: Es gebe "keine belastbare empirische Evidenz" für die Wirkungen einer zweijährigen Verlängerung der Grundschule. Zuletzt bezeichnete "PISA-Papst" Baumert die Auseinandersetzung um die sechsjährige Primarschule als "völlig unnötigen bildungspolitischen Streit", der wirklich notwendige Reformen vergessen lasse. Zum Beispiel - so Baumert - müsse man sich darauf konzentrieren, den Anteil von 20 Prozent Schülern, die schulischen Mindestzielen nicht genügten, zu reduzieren.

Eine verspätete schulische Differenzierung leistet hierzu jedenfalls keinen Beitrag, vielmehr ist sie ungerecht gegenüber begabten Kindern aus bildungsfernen Schichten. Während Eltern bildungsnaher Schichten ihre Kinder bei einem späteren Übertritt an eine weiterführende Schule privat fördern können, bleibt ihren Alterskollegen aus anderen Elternhäusern die individuelle Förderung, die sie in einer für sie passenden Schule bereits in der 5. und 6. Klasse erfahren könnten, versagt.

Die Differenzierung nach der 4. Grundschulklasse ist nicht nur notwendig. Es ist zu diesem Zeitpunkt auf der Basis des Elternwahlrechts sowie auf der Basis der Leistungen eines Kindes in Deutsch und Mathematik eine klare Prognose möglich. Das Übertrittszeugnis der Grundschule kann einen hohen prognostischen Wert haben. Diese prognostische Aussage könnte noch gesteigert werden und noch gerechter ausfallen, wenn das Übertrittsverfahren etwa mit einheitlichen Probearbeiten konsequenter ausgestaltet würde.

Völlig aus dem Blick scheint mit der Debatte um die Primarschule zu geraten, dass mit ihr die bislang auch in Hamburg erfolgreichste Schulform in ihren Bildungsmöglichkeiten beschädigt wird: das Gymnasium. Bereits die Verkürzung zum "G8" hat ihm schwer geschadet. Nach seiner Enthauptung würden dem Gymnasium mit der Primarschule nun auch die Beine amputiert. Aus einem neunjährigen Gymnasium aus einem Guss würde damit ein sechsjähriges Bonsai-Gymnasium. Es müsste in seiner neuen Eingangsstufe, der 7. Klasse, auf erheblich niedrigerem Niveau ansetzen, als dies bislang möglich war. Vor allem aber verliert ein sechsjähriges Gymnasium den unschätzbaren pädagogischen Charme, eine Schule zu sein, die Heranwachsende über drei Lebensalter hinweg kontinuierlich fördert: von der Kindheit über die Jugend bis zum jungen Erwachsenenalter. Unterrichtsstunden, die Gymnasiallehrer in den Klassen 5 und 6 einer Primarschule halten sollen, wären da nur ein Feigenblatt.

Fazit: Die finanziell ohnehin reichlich klamme Hansestadt wäre gut beraten, die fast 400 Millionen Euro, die eine Primarschule kostet, sinnvoll einzusetzen - zum Beispiel im sozialpolitisch so enorm wichtigen Bereich der Vorschulbildung. Die Von-Beust-CDU aber muss aufpassen, dass sie nicht den letzten Rest an bildungspolitischer Glaubwürdigkeit verspielt.