Die Zahl der Blutproben sank 2010 auf einen neuen Tiefstand. Die veränderte Rechtslage ist im August Thema bei einem Krisengipfel.

Hamburg. Die Zahl der Blutproben, die in Verdachtsfällen von Alkohol am Steuer und nach vermuteten Straftaten in Hamburg genommen werden, war im Jahr 2010 so niedrig wie nie zuvor. In nur rund 1800 Fällen mussten Verkehrsteilnehmer und mutmaßliche Kriminelle Blutproben abgeben. In Spitzenzeiten, Anfang der 70er-Jahre, zapften Ärzte bei knapp 20.000 Menschen pro Jahr im Auftrag der Polizei Blut ab.

Der seit Jahren andauernde Trend zu immer weniger Blutproben wurde im vergangenen Jahr deutlich verstärkt. Grund: Die Polizei darf seitdem nicht mehr allein über eine Blutprobenentnahme entscheiden. Seitdem gilt der sogenannte Richtervorbehalt. Ein Staatsanwalt muss bei einem Richter um eine Genehmigung bitten. Erst dann darf in der Regel auf der Polizeiwache zur Nadel gegriffen werden. Nicht selten vergehen Stunden, bis eine entsprechende Entscheidung vorliegt. Stunden, die der Betroffene auf der Wache verbringen muss und in denen die Beamten keine anderen Einsätze absolvieren können. Stunden, in denen der Alkoholgehalt im Blut des mutmaßlich Betrunkenen und damit der Beweiswert der Probe sinkt.

Unverständnis über die aktuelle Situation herrscht vor allem bei den Polizeigewerkschaften: Die Praxis, vor jeder Blutprobeentnahme einen Richter entscheiden zu lassen, sei völlig realitätsfremd, kritisierte Uwe Kossel, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die Kommunikation zwischen Lagedienst der Polizei, Staatsanwaltschaft und zuständigem Richter sei teils als absurd zu bezeichnen, ergänzt Joachim Lenders, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Drei bis vier Stunden müssten die Beamten in der Regel auf den Bescheid des Richters warten.

"Früher haben wir schon auf der Fahrt zur Wache über Funk den Arzt bestellt", sagt Kossel. Der habe dann das Blut abgenommen, während der Beamte die nötigen Papiere ausgefüllt habe. "Heute ist das Problem, überhaupt erst mal jemanden zu erreichen." Vor allem nachts und an den Wochenenden gebe es immer wieder Probleme, Kontakt zum zuständigen Staatsanwalt oder Richter herzustellen. Doch dann sind prozentual die meisten alkoholisierten Delinquenten unterwegs. Auch wenn es viele Fälle gebe, wo die Zusammenarbeit problemlos laufe, ergänzt Lenders, seien Staatsanwälte und Richter oftmals gar nicht in der Materie. "Das Problem ist nicht mehr zu Handhaben", sagt Lenders. "Und zu vermuten steht, dass die eine oder andere Kontrolle, die stattfinden könnte, nicht stattfindet."

Ein Beispiel aus der Praxis: Wenn eine Peterwagenbesatzung sonnabendnachts auf einer Ausfallstraße auf einen Wagen mit fünf feiernden Jugendlichen getroffen sei, dann seien die Insassen oft präventiv auf ihren Alkoholkonsum kontrolliert worden, sagt Lenders. Das Warten auf den Richterbescheid vor Augen, werde darauf inzwischen wohl eher verzichtet. "Das Phänomen ist bekannt, die Zahl der Blutprobeentnahmen ist tatsächlich überproportional zurückgegangen", erklärt Staatsanwalt Bernd Mauruschat, Sprecher der Anklagebehörde. Der Hamburger Chefankläger Lutz von Selle lade deshalb am 18. August zu einem "Erfahrungsaustausch". Geklärt werden soll, ob die Entwicklung zu Beweisschwierigkeiten führe. Eingeladen sind Polizeipräsident Werner Jantosch, der Leiter der Staatsanwaltschaft Ewald Brandt, der Chef der Rechtsmedizin Klaus Püschel und die Spitzen von Land- und Amtsgericht. Püschel, in dessen Institut die Proben ausgewertet werden, erklärt sich den Rückgang auch mit der gewachsenen Aufgabendichte der Polizei: "Die Kontrolle von Alkohol im Straßenverkehr genießt keine Priorität", sagt er. Da der Konsum von Alkohol und Drogen in der Bevölkerung weiter anhalte, so Püschel, dürfe der Kontrolldruck nicht weiter nachlassen: "Das könnte zu einer neuen Gefährdungslage führen." Polizei und Staatsanwaltschaft gingen zudem wertvolle Informationen verloren, so Püschel. Vor allem, da die Zahl der Blutproben auch bei anderen Deliktsfeldern stark zurückgegangen sei.

"An uns sind bislang keine Beschwerden herangetragen worden", sagt hingegen Landgerichtssprecher Janko Büßer. "Wir können diese Zahlen nicht bestätigen, halten die Bearbeitungszeiten für angemessen." Auf die Kritik der Gewerkschaften Bezug nehmend, sagte Büßer, er könne nicht ausschließen, dass Interessenskonflikte auftreten. Allerdings gelte natürlich die richterliche Unabhängigkeit.

Dass bei einem mutmaßlich betrunkenen Autofahrer vier Stunden gewartet werden müsse, bis die Blutentnahme genehmigt werde, sei äußerst kritisch, sagt ADAC-Sprecher Matthias Schmitting. Angesichts der Tatsache, dass ohnehin nur jede 600. Fahrt unter dem Einfluss von Alkohol überhaupt aufgedeckt werde, sei diese Entwicklung nicht hinzunehmen.