In den USA lernen schon Fünfjährige mithilfe von Tablet-Computern und YouTube-Videos. In Deutschland dagegen herrscht noch viel Skepsis gegenüber dem digitalen Unterricht. Marc Hasse hat fünf Schulen im Heimatland von Apple und Google besucht und schildert auch die ersten Erfahrungen am Körber-Gymnasium in Hamburg

Um ihre Schüler an das Lesen und Schreiben heranzuführen, schickt Mauri Dufour sie an diesem Vormittag ins Internet. „Hallooohoo ...“, ruft die 35-Jährige, eine energische Frau mit schulterlangen braunen Haaren. „Nehmt Euch bitte ein iPad!“ Darauf haben die 19 Kinder gewartet: Kichernd laufen sie zu den Regalen, greifen sich die in rotes und blaues Plastik gehüllten Tablet-Computer und bauen sie vor sich auf.

Währenddessen verteilt die Lehrerin Karten, Stifte und Papier, das sie mit QR-Codes bedruckt hat. Diese quadratischen Muster sollen die Schüler mit der Kamera ihrer Mobilgeräte fotografieren. Dadurch öffnet sich auf den Tablets ein Video, das Dufour bei YouTube hochgeladen hat (zum Ansehen hier klicken). Die Kinder streifen sich Kopfhörer über und schauen den Film an, in dem Dufour erklärt, wie sie auf den Karten bestimmte Buchstaben passenden Objekten zuordnen sollen. Zum Beispiel das „O“ einem Oktopus oder Oliven.

An einer Wand hängt ein Plakat, darauf steht: „Standard Operating Procedure“, Standardvorgehensweise. Während der „eigenständigen Schreibzeit“, heißt es dort, sollen „null Geräusche“ zu hören sein. Nun hocken die Kinder da, jedes für sich. Wischen mit den Fingern über Displays. Die meisten in der Gruppe sind fünf Jahre alt.

Tablets und digitale Medien schon in diesem Alter? Sieht so die Zukunft des Lernens aus?

Wir sind zu Besuch in einer Kindergartenklasse an der Fairview Elementary School in Auburn im US-Staat Maine. Der Kindergarten ist in den USA Teil der Grundschule und dauert ein Jahr. Daran schließt sich die erste Klasse an, die Schüler im Alter von sechs bis sieben Jahren besuchen.

Auburn liegt drei Autostunden von der Metropole Boston und den berühmten Universitäten Harvard und MIT entfernt. Herausgeputzte Villen, Professoren und Studenten sieht man in Auburn allerdings nicht. Viele der etwa 23.000 Einwohner arbeiten im Einzelhandel und in der Verwaltung. Blasse Wohnhäuser und Gewerbegebiete prägen das Erscheinungsbild des Ortes.

Ausgerechnet hier begann 2011 eine Bildungsoffensive, die im ganzen Land für Aufsehen sorgte: Die fünf Grundschulen der Stadt waren damals die ersten in den Vereinigten Staaten, die bereits im Kindergarten iPads nutzten. Einige Monate nach dem Start der Initiative wurden auch die Klassen eins bis drei mit Tablet-Computern ausgestattet. Man stelle sich das mal in Deutschland vor.

Josef Kraus, 65, mag sich das nicht vorstellen. „Ich warne vor der totalen Computerisierung und Digitalisierung des Klassenzimmers“, sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes kürzlich der „Bild“-Zeitung. „Natürlich müssen wir unseren Schülern auch den Umgang mit den neuen Medien beibringen. Aber wir dürfen damit nicht schon in der Grundschule anfangen, nicht in jedem Schulfach, und wir brauchen keine Laptop-Klassen.“ Die Gefahr sei, dass solche Maßnahmen die Flüchtigkeit der Schüler förderten, sagte Kraus. „Der Mangel an Konzentration und Durchhaltevermögen ist eine weitere Folge.“

Zwar hat zumindest in Deutschland bisher niemand eine totale Digitalisierung des Unterrichts gefordert. Noch lernen hier wenige Schüler den Umgang mit digitalen Medien; die Mehrzahl der Lehrer unterrichtet hauptsächlich mit gedruckten Lehrbüchern, mit Tafel und Kreide. Während Kinder und Jugendliche selbstverständlich mit Smartphones und Tablets aufwachsen und damit immer online sein können, ist das Internet vielerorts im Klassenzimmer noch nicht angekommen. Gewarnt wird aber trotzdem schon mal.

Lehrerverbandspräsident Kraus, Direktor eines Gymnasiums im niederbayerischen Vilsbiburg, gibt auf Nachfrage des Abendblatts zu, dass er bisher keine Tablet- oder Laptop-Schule besucht hat, um sich vorführen zu lassen, was der Einsatz solcher Geräte bringen soll. Sein Eindruck sei, dass viele Befürworter der digitalen Schule einem Hype folgten, sagt Kraus. „Mir hat bislang noch niemand nachweisen können, dass der Unterricht durch digitale Medien besser wird.“

Wird der Unterricht besser? Oder droht tatsächlich Gefahr? Es kommt darauf an, wie man „besser“ definiert.

Im Gegensatz zu Deutschland lernen viele Lehrer in den USA schon während ihrer Ausbildung, wie sich Medien im Unterricht nutzen lassen. Dies sowie die Präsenz großer Computer- und Internetkonzerne wie Apple, Google und Microsoft, die viel Geld in den Bildungsmarkt investieren, haben dazu geführt, dass der Unterricht mit digitalen Mobilgeräten und Onlinezugängen an vielen US-Schulen weiter fortgeschritten ist als in Deutschland.

Doch auch die Amerikaner experimentieren noch. Wie in einem Labor lässt sich dort beobachten, wie die Digitalisierung den Unterricht verändert.

In der Fairview-Grundschule in Auburn geht der Besucher durch gelb-blau gestrichene Flure, die mit Buntstift-Bildern dekoriert sind. Durch die geöffneten Klassentüren sieht man Kinder, die schreiben, basteln, zeichnen und malen, die gemeinsam singen – oder mit Geschrei herumtoben, weil sie gerade Pause haben. Erst auf den zweiten Blick fallen die bunten Tablets auf, mit denen etwa jede vierte Klasse an diesem Vormittag arbeitet.

Um die Leistungen ihrer Schüler über Jahre hinweg vergleichbar zu machen, nutzen die Fairview-Schule und die fünf anderen Grundschulen in Auburn ein standardisiertes, landesweit anerkanntes Testsystem mit Punkten. „Noch 2010 war das Ergebnis ernüchternd“, sagt Carol Miller, 60, eine freundliche Frau mit aschblondem Haar, die an der Fairview-Schule als „Technology Integrator“ für die digitale Technik zuständig ist. „Bei der Lese- und Schreibfähigkeit etwa zeigten nur 63 Prozent unserer Kinder am Ende des Kindergartens und in der ersten und zweiten Klasse die Leistungen, die Schüler an anderen Grundschulen des Landes erbringen.“

2010 war das Jahr, in dem Apple das erste iPad auf den Markt brachte. Bald darauf gab es Lernsoftware für das Gerät. 2011 startete der Schuldistrikt ein Pilotprojekt. Ob es wirksam sein würde, sollten Forscher des Boston College überprüfen. 266 Kinder aus 16 Kindergarten-Gruppen wurden in die Studie einbezogen. Eine Hälfte nutzte im Unterricht neun Wochen lang zusätzlich iPads. Die andere Hälfte wurde unterrichtet wie zuvor. Ergebnis: Die Schüler mit Tablets zeigten im Lese- und Schreibunterricht einen deutlich größeren Fortschritt als die Kontrollgruppe. „Wir sprechen über einen relativ kurzen Beobachtungszeitraum“, sagt Prof. Damian Bebell, Leiter des Forscherteams. „Aber es zeigte sich eine klare Tendenz.“

In diesem Jahr wiederholten die Forscher ihre Studie. Allerdings konnten sie keine Kontrollgruppe mehr untersuchen, denn keine der sechs Schulen will inzwischen mehr ohne Tablets arbeiten. Ergebnis der bisher unveröffentlichten Analyse: Noch immer gibt es in den Kindergarten-Gruppen Verbesserungen bei der Schreib- und Lesefähigkeit verglichen mit Leistungen früherer Klassen ohne Tablets. Aber die Fortschritte fallen nicht mehr so deutlich aus, und in den höheren Klassen sind sie geringer. Warum das so ist, lässt die Forscher rätseln. „Vielleicht waren die Lehrer anfangs besonders motiviert“, sagt Damian Bebell.

Wie wirksam sind die Tablets ? Sehr wirksam – meinen die Lehrer. „Den Schülern macht die Arbeit mit den Geräten viel Spaß“, sagt Carol Miller. „Und die Lehrer können ihren Unterricht vielfältiger und zeitgemäßer gestalten.“ Kindergartenlehrerin Mauri Dufour etwa, die QR-Codes und YouTube nutzt, könnte ihre Schüler natürlich auch ohne digitale Technik bestimmte Buchstaben passenden Objekten zuordnen lassen. „So aber gehen die Kleinen auf eine digitale Entdeckungsreise, bei der sie zugleich den Umgang mit Tablet, Digitalkamera und Videos lernen“, sagt sie.

„Der größte Vorteil ist aber, dass wir die Schüler mithilfe der digitalen Technik individueller betreuen können“, sagt Carol Miller und führt über den Flur zu einem Raum, in dem Mathelehrerin Kelly McCarthy gerade mit ihrer Kindergartengruppe übt, Zahlen zu erkennen und zu schreiben. Auch hier hält jedes Kind ein iPad in den Händen. Mit ihren Fingern zeichnen die Fünfjährigen auf den Touchscreens die Umrisse von Zahlen nach. „Wenn von 20 Kindern zehn Probleme haben, kommt die Lehrerin kaum hinterher“, sagt Miller. „Die Lern-App auf dem Gerät gibt den Schülern sofort eine Rückmeldung, korrigiert sie, zeigt ihnen die Übung erneut, führt sie weiter“, erläutert Miller. Am Ende des Unterrichts liefert die App eine Auswertung, die zeigt, ob sich Schüler an bestimmten Stellen schwergetan haben. „Um diese Schüler kann sich die Lehrerin in der nächsten Stunde dann intensiver kümmern“, sagt Miller.

Während es den Grundschullehrern in Auburn vor allem darum geht, die Schüler mit digitaler Technik vertraut zu machen und sie beim Erlernen grundlegender Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben zu unterstützen, nutzen etliche weiterführende US-Schulen digitale Medien in allen Fächern.

Wir fahren nach White Plains im Staat New York. Ein wuchtiger Bau aus rotem Backstein, im Foyer hängt ein Foto von Papst Franziskus, daneben ein Holzkreuz mit dem gekreuzigten Jesus – die Archbishop Stepinac High School setzt auf die Werte und Traditionen der katholischen Kirche. Auch Kameradschaft und Disziplin sind an der privaten Jungenschule sehr wichtig. Aus den Klassenräumen dringen die Stimmen der Lehrer auf den Flur, ihr Ton ist laut und streng. Der Unterricht läuft zackig ab, die Schüler, 15 bis 18 Jahre alt, tragen blaue Uniformen. Trotz ihrer konservativen Grundhaltung setzt die Schule auf modernste Technik: Als erste Highschool in den USA begann sie 2013, nur noch mit digitalen, interaktiven Lehrbüchern zu arbeiten, die auf einer Plattform im Internet gespeichert sind.

Begonnen hatte der Umbruch damit, dass Pearson, einer der großen US-Schulbuchverlage, seine Werke auch als digitale Versionen anbot. Das waren zunächst nur PDF-Dateien. „Trotzdem bevorzugten viele Schüler die digitale Version, weil sie damit auf ihren Mobilgeräten arbeiten konnten“, erzählt der stellvertretende Schulleiter Frank Portanova, 38, in seinem holzvertäfelten Büro. Auf seine Initiative hin entwickelte Pearson eine Online-Bibliothek, die sich mit einem Internetbrowser nutzen lässt. Das macht sie unabhängig von einem Betriebssystem. Die 680 Schüler greifen darauf mit Laptops und Tablets von verschiedenen Marken zu; es müssen nicht etwa teure Apple-Geräte sein.

An seinem Computer demonstriert Portanova, wie das Ganze funktioniert. Per Mausklick lassen sich 51 Bücher aufrufen, von Algebra über Geschichte, Literatur, Politik bis hin zu Wirtschaft. Die Kapitel lassen sich nach Stichworten durchforsten. Die Lehrer können jedes Kapitel mit Anmerkungen versehen, getrennt für einzelne Kurse.

Früher schleppten die Schüler einen Packen Schulbücher mit sich herum, der bis zu 15 Kilo wog. Heute müssen sie nur noch ihr Tablet oder ihr Notebook mit zur Schule bringen. Auch zu Hause können sie jederzeit auf die Bibliothek zugreifen. Früher mussten die Eltern pro Jahr 650 Dollar für Schulbücher bezahlen. Heute sind es nur noch 150 Dollar für die Lizenzen. „Das Lernen wird flexibler und günstiger“, sagt Frank Portanova. „Vor allem aber bieten sich den Schülern ganz neue Perspektiven.“

Im Vergleich zu den gedruckten Pearson-Büchern enthalten die digitalen Versionen diverse Erweiterungen wie Infografiken und Videos. Ruft ein Schüler etwa das Buch „Global studies“ auf, kann er sich eine interaktive Karte von Ägypten anzeigen lassen, eine Fernsehrede von John F. Kennedy zur Kuba-Krise oder eine Dokumentation der TV-Senderkette PBS über die inszenierte Präsidentenwahl im Iran 2009.

„Durch die Videos und Animationen kann ich viele Schüler besser als früher dazu bringen, sich eingehend mit einem Thema zu beschäftigen“, sagt Biologie-Lehrerin Roxanne Calvello. Die 55-Jährige steht in einem Experimentierraum mit Mikroskopen. An den Wänden hängen Tierposter. Eine ihrer Klassen beschäftigt sich gerade mit Säugetieren. Zuletzt ging es um Wale. Dafür nutzt die Lehrerin die Software „Voices of the Sea“. „Wir hören uns die Laute von verschiedenen Walen an“, erklärt Calvello, während sie eine Aufnahme abspielt, die das Fiepen und Pfeifen von Schwertwalen zu Gehör bringt. „In 3-D-Animationen schauen wir uns außerdem an, wie die Echoortung der Wale funktioniert. Super, oder nicht?“

Anfangs sei es für sie hart gewesen, sich mit der Lernplattform vertraut zu machen, sagt Calvello. „Heute macht auch mir der Unterricht mehr Spaß.“

Ähnlich wie an der Fairview-Grundschule können sich auch die Lehrer der Stepinac High School von einer Software detailliert anzeigen lassen, wie ihre Schüler bestimmte Aufgaben bewältigen, die sie ihnen auf der Onlineplattform zugeteilt haben. Bei welchem Schritt hakt es oder hatten viele Schüler das gleiche Problem? Die Lehrer können sogar sehen, zu welcher Zeit die Schüler daheim ihre Hausaufgaben machen. Am Nachmittag, wie gewünscht, oder um 22 Uhr? Klingt nach Big Brother. „Mag sein“, sagt Frank Portanova. „Aber ist es nicht besser, ein Problem beim Lernen früh zu erkennen? Die Eltern wollen, dass wir den Lernerfolg so genau kontrollieren.“

Noch weiter geht die private Gesamtschule Avenues in Manhattan (New York). Auch sie hat einen Lehrer, der die digitalen Aktivitäten koordiniert, er heißt Dirk DeLo. An der Avenues-Schule arbeiten alle Schüler zeitweise mit Tablets und Laptops, vom Kindergarten bis zur Oberstufe. Wenn die Schüler Lern-Apps nutzen, können DeLo und seine Kollegen die entstehenden Daten auswerten. So kann bereits in Ansätzen ein digitales Leistungsprofil eines Schülers entstehen.

Dabei wird es aber nicht bleiben: Zusammen mit einer Statistik-Expertin von der Universität Harvard entwickelt ein Team um DeLo derzeit eine Software, die dafür sorgen soll, dass alle Daten aus den verschiedenen Analysesystemen zusammenfließen – von der Lese- und Schreibfähigkeit in den unteren Klassen bis hin zu Leistungen etwa in Mathematik in den oberen Klassen. „Octopus“ hat die Schule das Projekt scherzhaft getauft, in Anlehnung an einen (Daten-)Kraken mit seinen Tentakeln. „Wir hoffen, dass die Lehrer auf diese Weise sehr schnell ein Feedback bekommen, ob die Methoden, die sie nutzen, so effektiv sind wie angenommen“, sagt Tyler Tingley, der stellvertretende Schulleiter. Ob eine solche Datenanalyse tatsächlich den Unterricht verbessern wird, ist jedoch offen.

Kaum bezweifelt wird, dass die Digitalisierung Kreativität fördern kann. Wie schafft man es, dass Schüler sich für die Newtonschen Bewegungsgesetze interessieren, für Formeln wie F = m*a, Kraft = Masse mal Beschleunigung? Shari Hiltbrand, Physiklehrerin an der privaten Gesamtschule Kinkaid in Houston (Texas), hatte vor vier Jahren die Idee, es mit dem Computerspiel Angry Birds zu versuchen. Das kam so gut an, dass sie nun einmal pro Jahr in allen Oberstufenklassen ein Angry-Birds-Seminar gibt.

Als wir die 50-Jährige besuchen, steht sie grinsend inmitten einer aufgekratzten Gruppe von Neuntklässlern. „Oh .... ahhh … ja, ja, ja... komm schon!“, krakeelen die Jugendlichen, vor ihren Laptops hin und her rutschend, während sie in dem Computerspiel mit „wütenden“ Vögeln auf grüne Schweine schießen, die sich hinter Wänden aus Glas, Holz und Stein verschanzen. Nur wenn die Schleuderkraft genau richtig abgepasst ist, werden die Schweine getroffen. Die Schüler daddeln aber nicht nur, sie machen sich auch seitenweise Notizen. Nach 20 Minuten ruft Hiltbrand die Gruppe vor der Tafel zusammen, bespricht die Beobachtungen.

Was in Houston, White Plains und anderswo auffällt: Es sind technikaffine Lehrer nötig, die motivieren, die Kollegen mitreißen und bei der Integration der Technik helfen müssen, wenn die digitale Schule erfolgreich sein soll.

Vor allem aber braucht es Konzepte. Anna Baralt, 43, hat ihre Doktorarbeit über digitale Medien als Lehrmittel geschrieben. 2011 startete sie an der privaten Gesamtschule Shorecrest in St. Petersburg (Florida) eine Tablet-Initiative. Heute kommen die Geräte dort im Unterricht mal fünf Minuten zum Einsatz, mal eine Stunde – oder gar nicht. „Unsere Lehrer planen erst ihren Unterricht und überlegen dann, ob die iPads einen zusätzlichen Nutzen bringen“, sagt Baralt.

Was geschieht, wenn Experten wie Baralt fehlen und digitale Technik konzeptlos eingeführt wird, kann man in den USA auch sehen. Landesweit Schlagzeilen machte das Chaos von Los Angeles. Der nach New York zweitgrößte US-Schulbezirk wollte alle 700.000 Kinder an den staatlichen Schulen bis Ende 2014 mit einem Tablet ausstatten. Doch schon kurz nach dem Start der Initiative im Herbst 2013 mussten an drei Highschools Tausende Tablets zurückgezogen werden. Lehrer konnten im Unterricht nicht online gehen, Eltern wussten nicht, ob sie haften, wenn die Geräte geklaut werden oder kaputtgehen. Das Hauptproblem war aber, dass Schüler die Sicherheitseinstellungen überlistet hatten und auf fragwürdigen Webseiten surften.

Apropos: Digitale Medien können vor allem jüngere Schüler ablenken – das berichten etliche US-Lehrer. „Problematisch ist das aber nur, wenn der Lehrer immer vor der Klasse steht“, sagt Anna Baralt. „Man muss öfter durch die Reihen gehen, mehr kontrollieren und das Tablet im Notfall auch mal einkassieren. Dann funktioniert der digitale Unterricht.“

André Spang (Twitter: @tastenspieler) hat die gleiche Erfahrung gemacht. Der 48-Jährige, Gymnasiallehrer für Musik und Religion, ein sportlicher Typ mit raspelkurzen Haaren und Dreitagebart, gilt als einer der Vorreiter des digitalen Wandels an deutschen Schulen, seit er 2011 anfing, an der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln mit Apples iPad zu arbeiten. Spricht man ihn auf die Einlassungen des deutschen Lehrerverbandschefs Kraus an, reagiert Spang mit einem tiefen Seufzen. Die Bedenken seien nicht völlig unberechtigt, aber: „Das Internet geht nicht mehr weg. Wegreden, verbieten – das bringt uns nicht weiter.“

Ähnlich wie viele US-Lehrer sieht Spang in digitaler Technik eine große Chance, die Schüler in ihrer Lebenswelt „abzuholen“, sie stärker einzubeziehen und so einen vielseitigeren Unterricht zu machen. Neulich, erzählt Spang, wollte er im Musikunterricht mit einer 8. Klasse über Komponisten wie Beethoven und Mozart sprechen. „Was sollen wir mit den alten Leuten?“, lamentierten die Schüler. „Können wir nicht Hip-Hop machen?“ – „Leute“, sagte Spang, „Hip-Hop ist cool, aber die alten Komponisten waren auch cool.“

Weil das nicht wirklich überzeugte, schlug Spang den Schülern vor, für das Thema das Computerspiel Minecraft zu nutzen. Mit der Software lassen sich aus Tausenden Gegenständen und würfelförmigen Blöcken dreidimensionale Welten bauen. Die Schüler konstruierten daraufhin ein unterirdisches Labyrinth. Zu den Komponisten überlegten sie sich Fragen, die sie in dem Irrgarten unter Steinen versteckten. Wer eine Frage richtig beantwortet, gelangt zur nächsten – und findet Schritt für Schritt den Weg hinaus. Die Auseinandersetzung mit Tonarten, Etüden und Sinfonien, sie wurde auf diese Weise für die Achtklässler zu einem spannenden Erlebnis. „Das haben die Schüler erfunden, nicht ich“, sagt André Spang.

Im besten Fall, erzählt der Musiklehrer, schaffe er es mithilfe der Tablets und einer Onlineplattform, kursübergreifend an Projekten zu arbeiten. Derzeit erstellen mehrere Schülergruppen ein E-Book über das Komponieren. Eine Gruppe schreibt über die Theorie, eine zweite stellt Instrumente vor, eine dritte Gruppe dreht Anleitungsvideos, wie man ein Musikstück komponiert, und eine vierte komponiert beispielhaft Musikstücke. „Die Schüler arbeiten vernetzt im Team, sie müssen die digitale Technik beherrschen, kreativ sein – es ist ein Lernszenario, dass sich mit herkömmlichen Mitteln nicht realisieren ließe“, sagt Spang.

In Hamburg sind gerade an sechs Schulen Laptop-Pilotprojekte mit Onlinezugängen gestartet. Mehrere Jahre Erfahrung mit digitalen Mobilgeräten hat erst eine Schule in der Hansestadt: Das Kurt-Körber-Gymnasium in Billstedt begann bereits 2011, Tablets in der Oberstufe einzusetzen. Ziel war es nicht, alle Lern- und Arbeitsprozesse mittels digitaler Medien zu unterstützen. Vielmehr sollten Lehrer und Schüler digitale und herkömmliche Medien nutzen und erproben, was wann nützlich sein könnte, seien es Bücher oder Internetseiten und YouTube-Videos.

Um die Maßnahme zu bewerten, beobachteten ein Team um Prof. Rudolf Kammerl von der Uni Hamburg und Bremer Forscher den Unterricht und führten Interviews mit Schülern und Lehrern. Nun liegen die Ergebnisse der Studie vor (siehe auch: Wie wichtig ist Handschrift für das Lernen?). Am Körber-Gymnasium habe „die Entwicklung einer zeitgemäßen Lehr- und Lernkultur begonnen“, heißt es. Die Kooperation zwischen den Jugendlichen scheine sich „deutlich verbessert zu haben“. Einige Schüler hätten einen Großteil ihres persönlichen „Informationsmanagements“ auf die Nutzung digitaler Medien umgestellt, andere Schüler seien jedoch zu einer verstärkten Nutzung analoger Medien zurückgekehrt.

Vor allem in der Anfangsphase scheint es aber an vielen Stellen geknirscht zu haben: Schüler kritisierten, der Umgang mit den Tablets sei im Unterricht zunächst kaum thematisiert und reflektiert worden; einigen Lehrern war auch später noch nicht klar, was sie mit den Tablets tun sollten. Zudem ist die Rede von einem großen Ablenkungspotenzial. Anfangs habe dies „vielen Jugendlichen erhebliche Probleme bereitet“; später habe die Problematik „offensichtlich nachgelassen“. Anfangs forderten einige Schüler, die Nutzung der Tablets stärker zu kontrollieren. Mit der Zeit hätten die Schüler dann Strategien entwickelt, mit dem Ablenkungspotenzial umzugehen.

Fragt man die Schüler nach ihren Erfahrungen, berichten sie vor allem von Vorteilen bei der Verwaltung und Organisation ihrer Dokumente und Vorteilen bei der Recherche. „Es ist praktisch, viele unterschiedliche Dokumente auf dem Tablet speichern zu können“, sagt Wares, 16. Durch die Möglichkeit, permanent auf das Internet zugreifen zu können, sei es leichter und schneller möglich, Informationen zusammenzutragen, sagt Sahra, 16. „Wenn ich Erklärungen in einem Buchkapitel nicht verstehe, kann ich im Netz nach weiteren Informationen suchen.“

Welche Quellen im Internet aber sind wertvoll, welche zu vernachlässigen? Wie stehe ich zu den Informationen, die ich finde? „Es ist ein langer Weg, die Schüler davon wegzubekommen, einfach nur zu googlen“, erzählt Schuldirektor Christian Lenz. Doch diese Mühe sollten sich Lehrer unbedingt machen, findet er: „Immer mehr Wissen liegt digital vor. Wir müssen unsere Schüler in die Lage versetzen, die digitale Gesellschaft zu durchschauen und mitzugestalten.“

„Digital macht schlau!“, titelte vor Kurzem ein deutsches Magazin. Körber-Schülerin Imke schüttelt den Kopf. „Auch ein Buch macht ja noch nicht schlau“, sagt die 17-Jährige. „Erst wenn ich darüber nachdenke, könnte mich das schlau machen.“ Das sieht auch Schuldirektor Lenz so: „Der Schüler muss neugierig sein. Wenn er keine Fragen hat und bestimmte Dinge nur macht, weil seine Eltern das wollen oder weil der Lehrer das von ihm will, dann lernt er nicht viel. Dann nützt auch das beste Tablet nichts.“

Die Recherche in den USA wurde mit einem McCloy-Stipendium des American Council on Germany unterstützt.

Ausführliches Interview mit dem Hamburger Schuldirektor Christian Lenz: hier klicken