Was ist dran an den Thesen des Hirnforschers Manfred Spitzer? Der Forschungsstand widerspreche der Behauptung, dass gesteigerte Computernutzung schädlich sei, sagen andere Wissenschaftler

Hamburg. Wann immer Pilotprojekte mit Tablets, Laptops und Onlinezugängen an Schulen starten wie derzeit in Hamburg, sind Kritiker nicht weit. Sie sehen in der Digitalisierung und der Einbindung des Internets in den Unterricht weniger eine Chance, sondern vielmehr eine Bedrohung – und berufen sich dabei oft auf Prof. Manfred Spitzer. Der 56-jährige Psychologe und Hirnforscher, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, veröffentlichte 2012 ein Buch, dessen Thesen bis heute nachwirken: „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen.“

Spitzer beruft sich auf verschiedene Forschungsergebnisse. Demnach droht nicht weniger als der Untergang. „Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist“, behauptet er. Bei Kindern und Jugendlichen werde durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folge seien Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft, Einsamkeit und sozialer Abstieg.

Wenn Eltern das uneingeschränkt glauben, können sie es natürlich mit der Angst zu tun kriegen. Was aber ist wirklich dran an Spitzers Darstellung? Um das zu beurteilen, gibt es mehrere Möglichkeiten. Der erste Ansatz besteht darin, Spitzers Thesen mit dem wissenschaftlichen Forschungsstand abzugleichen. Das haben die Medienpsychologen Prof. Markus Appel und Constanze Schreiner von der Universität Koblenz-Landau getan. Dazu nutzten sie Meta-Analysen. Das sind Untersuchungen, in denen Befunde vieler Studien gemeinsam betrachtet werden, um einen durchschnittlichen Trend zu ermitteln. Meta-Analysen seien zwar auch nicht völlig „objektiv“, schreiben die Forscher. Es gehe ihnen aber auch nicht um endgültige Wahrheiten, sondern darum, den Stand der empirischen Forschung darzustellen.

Das Fazit der Forscher in ihrer 2014 veröffentlichten Analyse: „Die alarmistischen Thesen von Spitzer und Co. haben wenig mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand zu tun“, so Appel. Die wissenschaftlichen Ergebnisse widersprächen auf vielen Gebieten klar den Thesen zu den schädlichen Auswirkungen des Internets. Weder führe vermehrte Internetnutzung im Mittel zu weniger sozialem Austausch, noch zu weniger gesellschaftlich-politischem Engagement. Auch seien intensive Internetnutzer im Mittel nicht einsamer als Wenignutzer. Zwar zeigten sich in einigen Studien Zusammenhänge für Wohlbefinden und Depressivität, aber diese seien so klein, dass kein Anlass für eine alarmistische Haltung gegeben sei.

Auch in puncto Lernen widersprächen die Befunde den Thesen zur „Digitalen Demenz“. Wenn herkömmlicher Unterricht zusätzlich Computer- und Internetanteile enthalte, sei im Mittel der größte Wissenszuwachs zu verzeichnen. Allerdings sei die Effektivität von computer- und internetbasierten Lerneinheiten vom Inhalt und von der Didaktik abhängig. Im Klartext: Digitale Medien machen den Unterricht nicht zwangsläufig besser – es kommt darauf an, wie und in welchen Situationen sie eingesetzt werden. Andere Forscher bestätigen das. „Es gibt sowohl Studien, die zeigen, dass sich der Unterricht durch digitale Medien positiv verändern kann als auch Untersuchungen, wonach sich der Unterricht kaum verändert“, sagt Prof. Kerstin Mayrberger, Erziehungswissenschaftlerin an der Uni Hamburg. „Es hängt vor allem von der Gestaltung des Unterrichts durch den Lehrer ab.“ Es gebe kaum Studien, in denen sich Nachteile durch das Lernen mit digitalen Medien zeigten.

Die Koblenzer Medienpsychologen Appel und Schreiner schauten sich für ihre Studie auch Meta-Analysen an, die sich mit den Wirkungen von Computerspielen beschäftigen. Demnach können Computerspiele beim Lernen helfen. Gewalthaltige Computerspiele können zu aggressiverem Erleben und Verhalten führen – allerdings seien die gefundenen Effekte klein.

Eine zweite Möglichkeit, Manfred Spitzers Thesen zu beurteilen, besteht darin, seine Argumentation zu betrachten. Diese läuft teilweise nach diesem Schema ab: Wenn etwa bei einer Studie herauskommt, dass Kinder, die Medien intensiv nutzen, schlechtere Leistungen zeigen als Kinder, die die Medien weniger häufig nutzen, können nur die Medien schuld sein. Tatsächlich können die Leistungen auch schon vorher schlecht gewesen sein. Oder es liegt an ganz anderen Faktoren. „Kausalität lässt sich immer umdrehen“, sagt Prof. Rolf Schulmeister, Erziehungswissenschaftler an der Uni Hamburg und „Altmeister“ des E-Learnings. „Spitzer kommt teilweise zu Schlussfolgerungen, die nicht zwingend sind.“ Kerstin Mayrberger sieht das ähnlich: Spitzer habe „einseitig Informationen zusammenrecherchiert“, seine Darstellung sei an vielen Stellen undifferenziert.

Ein inzwischen viel zitiertes Beispiel ist Spitzers Behauptung, wer sich auf sein Navi verlasse und sich nicht selbst im Raum orientiere, verlerne es, sich zurechtzufinden. Als Beleg führt er eine Studie mit 79 Londoner Taxifahrern an, die vor und nach ihrer Ausbildung untersucht wurden. Außerdem untersucht wurde eine Kontrollgruppe: 31 Männer, die nicht Taxi fuhren. Von den 79 Taxi-Azubis bestanden 39 nach drei bis vier Jahren die Abschlussprüfung. Bei diesen Probanden sei es zu einem „signifikanten Anstieg der grauen Substanz (d. h. der Nervenzellen) im Hippocampus“ gekommen – im Gegenteil zu den anderen Probanden, die erheblich schlechter abschnitten.

Von der sehr geringen Fallzahl einmal abgesehen: Ob die Zunahme wirklich unter dem Einfluss des Fahrens ohne Navi zustande kam, ob der Einsatz eines Navis das Gegenteil bewirken würde, ob die Zunahme überhaupt die Orientierung verbessern würde – all das lässt sich nicht eindeutig sagen. Bisher können Forscher dem Gehirn meist nur oberflächlich bei der Arbeit zuschauen: Während ein Proband Bewegungen ausführt, ein Bild betrachtet oder sich neue Informationen merken soll, zeigen bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie, welche Hirnregion gerade aktiv ist. Bei einem Taxifahrer während der Fahrt zu beobachten, wie in seinem Gehirn „Ortszellen“ wachsen – unmöglich.

Nein, nicht alle von Manfred Spitzers Thesen sind völlig unberechtigt. Es bestehe allerdings die Gefahr, dass Eltern und Lehrer durch Bücher wie „Digitale Demenz“ fehlinformiert und fehlgeleitet würden, schreibt Medienpsychologe Markus Appel. „Wichtig erscheint mir, dass Erziehungspersonen die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nicht von vorneherein verteufeln, denn dann wird es schwer, ein kompetenter Gesprächspartner in Sachen Internet zu sein.“