Es ist ein Glück für Ursula Carl, einen Bruder wie Friedrich zu haben. Sonst hätte sie Jahre auf eine Organspende warten müssen – und diese womöglich gar nicht erlebt.

Nicht so skeptisch gucken“, ruft der Fotograf. Er lacht. Alle lachen. Gelöste Stimmung. Sogar die Sonne scheint. Ursula und Friedrich Carl, die alle Welt nur Culle und Fidi nennt, lehnen an einer Kastanie, Fidi hält Culle für das Foto im Arm. Und lässt seine Schwester auch nicht los, als es längst geschossen ist. „Hey, ich hab neue Turnschuhe!“, ruft er dann und lacht wieder. „Grüne Turnschuhe, habt ihr die überhaupt gesehen?“ Culle lacht auch: „Grün!“ sagt sie und stockt kurz, ganz kurz nur, kaum wahrnehmbar. „Grün.“ Wieder ein Lachen. „Wie die Hoffnung!“

Dass es vielleicht ein bisschen zu gelöst ist, dieses dauernde Lachen und Frotzeln, die Albernheiten ein bisschen zu deutlich, die Umarmungen ein bisschen zu fest – vermutlich würde es niemand bemerken. Niemand, der die Geschichte von Fidi und Culle nicht kennt. Der nicht weiß, warum sie heute hier sind, unter dieser Kastanie, an diesem zu frühen Sommermorgen auf der Wiese vor dem Hamburger Universitätskrankenhaus in Eppendorf, an dem Krankenschwestern und Ärzte mit müden Augen auf dem Weg zum Dienst vorbeieilen, manche mit Zigarette in der Hand, manche mit einem Pappbecher noch dampfenden Kaffees. An diesem Sommermorgen, an dem Fidi „direkt nach dem Aufstehen schon Schlager gesummt“ hat, „echt wahr“, und an dem die Farbe Grün, die für die Hoffnung steht, plötzlich wirklich eine Bedeutung erhält. „So eine Kastanie hatten wir vor unserem Elternhaus“, sagt Culle, fährt mit der Hand kurz über den Baumstamm, räuspert sich und geht hinüber zu ihrem Kopfkissen, das sie neben der Reisetasche auf einer Bank abgelegt hat. Sie hat es extra aus Bremen mitgebracht, sie wird es die nächsten Tage brauchen. Vielleicht die nächsten Wochen. Sie wird eine Weile hier bleiben müssen, im UKE, ihr Bruder auch.

Am übernächsten Tag wird Culle eine neue Niere bekommen.

Es ist Fidis Niere.

Nur 29 Prozent aller Nierenspenden sind Lebendspenden

Als Ursula Carl im vergangenen November zusammenbrach, stand ihre Lebensgefährtin nur wenige Tage vor der Entbindung. Nach einer gescheiterten Ehe lebt Culle mit einer Frau zusammen, beide hatten sich entschieden, gemeinsam ein Kind großzuziehen, alles sah vielversprechend aus. Viel Arbeit, wie immer, na klar. Aber „viel Arbeit“ ist ein Zustand, in dem sich Ursula Carl auskennt, in dem sie sich wohlfühlt. Der Umzug mit der kleinen, unkonventionellen Familie ins eigene Haus stand bevor, das Hotel, das sie als Direktorin und Mitgesellschafterin einer Kette in Bremen führt, gehört zu den besten am Platz. Es trägt ihre Handschrift, es ist viel mehr als nur ein modernes Business-Haus mitten in der Altstadt, die mondäne Dachterrasse wird für private und öffentliche Feiern genutzt, der Weinkeller für Weinproben, der große Saal mit den ungewöhnlichen Leuchtern für Hochzeiten. Ursula Carl ist in der Bremer Gesellschaft bestens vernetzt, sie ist hier aufgewachsen, sie kennt die Entscheider „vom Hockey“, sie ist Mitglied bei den Rotariern. Eine kleine, pragmatische Mittfünfzigerin, unanstrengend, aber durchsetzungsgewohnt, energisch, aber herzlich. Nordisch-blonde Kurzhaarfrisur, hanseatische Perlenohrringe, Blauer-Blazer-zur-Jeans-Typ, Anzug, wenn nötig. Ihr junges Team ist professionell, effizient und trotzdem familiär. Wer ausgelernt hat, darf die Chefin duzen.

Als Ursula Carl im November vor einem Jahr zusammenbrach, passte das gar nicht zu ihr.

Ihrem Bruder erzählte sie erst später davon, dass ihre Nieren plötzlich ihren Dienst versagten. Dass sie plötzlich und sofort an die Dialyse musste und der Arzt ihr schnell klargemacht hat, dass das keine vorübergehende Sache sein würde. „Ich hab irgendwie gedacht, mal abwarten, ich will ihn jetzt nicht auch noch damit belasten, Fidi hat auch so genug um die Ohren“, sagt sie heute. „Und wir hatten ja irgendwie auch so viel zu tun.“ Als das Baby kam, ein kleiner, gesunder Junge, musste Culle schon dreimal in der Woche an die Dialyse. Sie ging abends, nach dem langen Arbeitstag im Hotel, sie war dann meist die Einzige auf der Station. Die meisten Patienten verbringen dort den Vormittag und verschlafen erschöpft den Rest, aber das passte so nicht in Culles ambitionierten Rhythmus. Früh aufstehen, ein Hotel leiten, eine Blutwäsche über sich ergehen lassen, ein paar Mitternachtsnudeln mit Butter und Parmesan essen, dem Baby vorsingen, kurz schlafen, wieder aufstehen, wieder ins Hotel.

So lief das. So ist Culle.

Irgendwann rief sie abends ihren Bruder in Hamburg an und erzählte, dass es da ein Problem mit ihren Nieren gebe. „Ich war im Theater“, erinnert sich Friedrich Carl und steckt sich eine Zigarette an, die erste von vielen während des Gesprächs, eigentlich während jedes Gesprächs; er raucht 40 Zigaretten am Tag („Naja, das sind zwei Packungen, das geht ja schnell“). „Meine Schwester rief mich an, und ich hab das alles erst mal hingenommen. Sie tat mir sofort total leid, natürlich, da war dieses ehrliche Mitgefühl, aber ich hab nicht eine Sekunde daran gedacht, zu fragen, ob ich irgendwie helfen kann. Und sie hatte auch gar nicht deshalb angerufen. Sie wollte mir das bloß erzählen.“

Friedrich Carl ist Pressesprecher am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater, gut vernetzt zu sein ist auch sein Job. Er macht die PR-Arbeit für den Dirigenten Jeffrey Tate, er war jahrelang John Neumeiers Mann für die Öffentlichkeit und sorgt unter anderem dafür, dass das Hotel The George in St. Georg eine funktionierende Öffentlichkeitsarbeit hat. Er kennt in der Hamburger Kulturszene jeden und alle, und jeder und alle kennen Fidi. Ein kommunikativer, unkomplizierter Typ, gut aussehend, braun gebrannt, jungenhaftes Strahlen, deutlich jünger als die 50 Jahre, die er ist. Gläubig? „Nee.“ Sport? „Neeee!“ Schwul und Single, einer, der zur Begrüßung Küsschen verteilt, seine SMS mit „Kuss Fidibus“ unterschreibt, der das Leben genießt, wie man so schön sagt, der gern raucht und gern einen trinkt und gern auch mal an einem Joint zieht.

Dass er selbstlos ein Organ herschenkt, hätten ihm manche vermutlich nicht als Erstes zugetraut.

Dabei passt es eigentlich sehr gut. Denn was die Geschwister Carl eint, ist auch ihr Sinn für Pragmatismus, für das Unkomplizierte, vielleicht eine sehr norddeutsche Angewohnheit. „Die stirbt ja, wenn sie nicht entgiftet wird“, hat Fidi nach dem Telefonat noch gedacht, eine Feststellung, die ihn in ihrer Klarheit, ihrer Logik und Unmissverständlichkeit selbst erschütterte. So will Fidi das Leben nicht haben, und so hat es aus seiner Sicht auch nicht das Recht zu sein, jedenfalls nicht unkommentiert.

Am nächsten Morgen ist er, der bekennende Langschläfer, um Viertel nach sechs aufgewacht. Er hat einen Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht. Ist spazieren gegangen, allein, bei Sturm, um die Alster, und hat noch eine Zigarette geraucht. Dann hat er seiner Schwester eine seiner Nieren angeboten. Per SMS. „Guten Morgen liebe Sorgen“, steht darin, „ich muss ja nicht 2 von den Dingern haben, wenn eine reicht!!!! Kusskuss Fidibus – ach und: Will ein Einzelzimmer im UKE und du zahlst!!!“ Dann ein Smiley.

So lief das. So ist Fidi.

Was folgte, waren Zahlen. Daten, Fakten, Chancen, Risiken. Wer Spender wird oder Empfänger, der wird, ob er nun will oder nicht, auch Experte. Knapp 51 Prozent aller postmortalen Organspenden in Deutschland sind Nierenspenden, erfuhren Fidi und Culle also, nur 29 Prozent aller Nierenspenden sind nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation Lebendspenden. Die Bereitschaft zur Organspende ist nach den Skandalen der jüngeren Vergangenheit erheblich gesunken. In Amerika liegt die Quote der Lebendspenden mit 50 bis 60 Prozent deutlich höher, in Deutschland hingegen ist es nicht einmal eine Selbstverständlichkeit, für den Fall der Fälle einen Organspendeausweis bei sich zu tragen. Die Wartezeiten für eine Spenderniere sind lang. Fast 8000 Patienten warteten gleichzeitig mit Ursula Carl auf eine Niere, das sind dreimal so viele wie die Zahl der jährlich verpflanzten Organe. Wartezeiten bis zu acht, neun Jahre sind keine Seltenheit, der Gesundheitszustand des Patienten verschlechtert sich in dieser Zeit rapide. Die Dialyse setzt dem Körper zu, natürlich auch der Psyche, manche Patienten schaffen es nicht, bis sie auf der Warteliste endlich ganz nach oben gerückt sind. Es ist das nervenaufreibende Warten auf das zwiespältige „Glück“, darauf, dass jemand einen Motorradunfall hat, der gleichzeitig einen Organspendeausweis mit sich führt.

Björn Nashan ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Hepatobiliäre Chirurgie und Transplantationschirurgie am UKE. Rund 80 bis 100 Nieren werden hier pro Jahr transplantiert, das UKE gehört deutschlandweit zu den großen Zentren. Nashan ist ein smarter Arzt, auffallend selbstsicher, aber trotzdem alles andere als unsympathisch, ein Chirurg, der viel Erfahrung in Nordamerika gesammelt hat. In Halifax an der Ostküste Kanadas hat Nashan vor Jahren ein Transplantationsprogramm wiederaufgebaut und geleitet. Wenn er heute über das deutsche System spricht, tut er das ohne Zynismus, differenziert, aber durchaus mit einem gewissen Spott in der Stimme. Auf seinem Schreibtisch steht eine kleine OP-grüne Plastikspielfigur, ein Chirurg mit Mundschutz. „Eine Transplantation ist nicht vergleichbar mit Blinddarm-Chirurgie“, sagt Nashan, „es ist komplex.“ Die chirurgische Technik, das Beurteilen der Organe, des Spenders und des Empfängers, die Fingerfertigkeit, die intellektuelle Schärfe, die Fähigkeit, das eigene Tun ständig zu hinterfragen. Björn Nashan grinst. „Es gibt Hufschmiede, und es gibt Goldschmiede.“ Es ist klar, zu welcher Kategorie er sich selbst zählt.

„Raten Sie mal, in welcher Gruppe Lebendspenden am häufigsten vorkommen“, fragt er: „Unter Ehepartnern? Unter Geschwistern? Oder von Eltern zu Kindern?“ Die Antwort ist überraschend: Nicht die Eltern sind es, die am häufigsten ihre gesunden Organe herschenken, auch nicht die blutsverwandten Geschwister. Sondern die Lebenspartner. Der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender oder der DGB-Chef Michael Sommer und seine Frau Ulrike waren dafür die zuletzt wohl medienwirksamsten Beispiele. „Hauptsache der Spender ist gesund. Die Blutgruppe sollte übereinstimmen, aber nicht einmal das ist heutzutage noch zwingend.“

Die Ethikkommission fragte: „Kriegen Sie Geld dafür?“

Bei den Geschwistern Carl herrschten geradezu „perfekte Zustände“, schwärmt der Arzt. Eine Selbstverständlichkeit sei jedoch auch diese Spende nicht: „Man muss es wollen. Wirklich wollen. Und dann auch noch verstehen. Der Spender geht völlig gesund in eine Operation – eine Operation, in deren Folge es auch zum Tod des Spenders kommen kann. Darüber muss man vorher reden. Man darf das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

Fidi verdreht die Augen, wenn er vom Prozedere in den Wochen vor der Operation erzählt. Nicht nur Ärzte wie Nashan seien in dieser Hinsicht deutlich geworden, damit hatte er gerechnet („Einfach nichts durchlesen und schnell unterschreiben“). Viel schlimmer war für ihn die verpflichtende Ethikkommission: „Ich musste da gleich mehrmals hin, die haben mich verhört, als hätte ich was Illegales vor. Warum tun Sie das? Kriegen Sie Geld dafür? Warum tun Sie das? Sind Sie abhängig von Ihrer Schwester? Warum tun Sie das? Es war echt schlimm. Irgendwann hab ich gedacht, jetzt leckt mich doch! Ich gebe meiner Schwester eine Niere, weil ich eine über hab und weil sie sonst stirbt, reicht das nicht?!“

Es folgten zahlreiche medizinische Untersuchungen, sowohl für Friedrich als auch für Ursula Carl. „Ich war bei mindestens einem Dutzend verschiedenen Ärzten, vom Gynäkologen bis zum Zahnarzt, um jede mögliche Infektion auszuschließen“, erzählt Culle. „Heraus kam: Ich bin eigentlich topfit. Bis auf die blöde Niere. Eigentlich auch ganz schön zu wissen.“ Fidi erging es ähnlich. „Die haben wirklich alles gecheckt. Vielleicht weiß in Hamburg Helmut Schmidt noch besser über seine Gesundheit Bescheid. Aber direkt danach komm ich.“

Was im Rückblick teils komische Züge hat, ist für die Betroffenen ein harter Weg. Bei zehn Prozent lag ihre Nierenfunktion, als Ursula Carl nach ihrem Zusammenbruch in die Klinik kam. Ihre Nieren waren Schrumpfnieren, so klein wie Kindernieren, schon ihr Vater hatte dieses Problem, „aber davon wusste ich nie etwas“. Schnell kam Ursula Carl auf die Liste, auf die jeder Organpatient muss, es ist wie eine unnachgiebig losratterndes Mahlwerk, das ganz plötzlich anfängt sich zu drehen, in dem ein Rädchen ins nächste greift, immer weiter, ohne Zeit zum Innehalten. Eine Stiftung namens EuroTransplant in Holland führt diese Liste, die – je nachdem, an welcher Stelle man auf ihr steht – über Leben und Tod entscheiden kann. Sie hat ihren Sitz in einem Ort, der Leiden heißt, ausgerechnet. 622 Euro kostet die Anmeldung, „das klingt alles wie eine Logistikfirma“, fand Culle, und so etwas Ähnliches ist es im Grunde auch.

Schmerzen hatte sie keine, sie war vor allem schlapp, hatte Schüttelfrost – und musste nach den ersten Tagen auf der Intensivstation sofort in die regelmäßige Dialyse. Blutwäsche. Wenn man es so konkret benennt, klingt es weniger distanziert. Und weniger schön. 70 Liter Blut werden dabei pro Sitzung gewaschen, jeweils viereinhalb Stunden lang, im Urlaub springt eine „Feriendialyse“ ein, solche Stationen gibt es nahezu weltweit. Ohne geht es nicht, auch nicht ausnahmsweise. „Die Abhängigkeit von diesem Gerät ist wirklich eine harte Nummer. Und ich musste locker 30 Tabletten am Tag schlucken, ich hing praktisch dauernd über meinen Pillenboxen.“ Gelesen habe sie dabei, erzählt Culle, Tennis im Fernsehen geschaut, solche Dinge. „Sonst komm ich ja nie dazu fernzusehen, man muss das Beste daraus machen. Ich hab mich arrangiert.“ Wieder ein Lächeln, wieder ein Schulterzucken.

Wenn Ursula Carl ihre Krankheitsgeschichte erzählt, wirkt sie ähnlich pragmatisch wie bei einer Führung durch ihre eigenen Hotelzimmer. Zugewandt, offen, strukturiert, aber auch nüchtern, manchmal auf irritierend berührende Weise nüchtern. Gläubig sei sie nicht, sagt sie zum Beispiel, „nee, ich hab den Glauben verloren, als meine Mutter starb“. Das sind so Sätze. Natürlich frage sie sich bisweilen, warum ihr das passiere, „warum auch das noch“. Eine früh verstorbene Mutter, eine Scheidung, zwei Fehlgeburten. Man schluckt, wenn man das alles hört. Und gleich noch einmal, wenn Ursula Carl dann lächelt, gar nicht mal tapfer, sondern eher selbstverständlich, und einfach so weiterspricht und es aus ihrem Mund so schlicht und ergreifend unkitschig klingt, wenn sie sagt: „Ich glaube an die Liebe, an die Menschen um mich herum. Und an das Leben.“ Und so unsentimental sie als Person auch sein mag – auch an die Wiedergeburt glaubt Culle. „Doch, das muss ich sagen. Das wäre doch ganz schön!“

Ursula darf jetzt nur noch essen, was man auch Schwangeren empfiehlt.

Wenige Wochen später weiß sie, wie sich das anfühlt. Eine Wiedergeburt.

So zum Beispiel: „Der erste Toilettengang war wie Weihnachten und Geburtstag zusammen.“

Culle und Fidi sitzen in einem Café in der Hamburger Innenstadt. Beide haben eine gesunde Spätsommerfarbe, man könnte glauben, sie waren erst vor Kurzem noch im Urlaub. Culle trägt einen blauen Blazer und ihren Siegelring am kleinen linken Finger, die Bremer Hoteldirektorin ist zurück. Fidi hat seine grünen Turnschuhe an den Füßen. Die Geschwister lächeln.

Die Symbolfarbe hat ihr gutes Werk getan: Das Hoffen hat sich ausgezahlt. Die OP ist geglückt. Culle hat jetzt Fidis Niere, Fidi hat nur noch eine, beiden geht es gut, Professor Nashan ist zufrieden. Die Anspannung ist der alten Unbefangenheit gewichen. Nicht zwanghaft dieses Mal, sondern erleichtert. Ursula Carl hat die Reha-Wochen an der Müritz überstanden, ihre Freundin hatte sich mit dem Baby, das mittlerweile krabbeln kann, ganz in der Nähe einquartiert. Friedrich Carl war schon wenige Tage nach der Operation mit Freunden an der Elbe, die Zigaretten liegen – entgegen der ausdrücklichen Empfehlung des Arztes – längst wieder griffbereit.

„Ich gehe sehr vorsichtig mit deinem Geschenk um“, sagt Culle zu Fidi. „Musst du nicht“, antwortet der und winkt ab, „das hat schon viel ausgehalten.“ Auch das Thema Dankbarkeit ist zwischen den Geschwistern geklärt. „Gott sei Dank hast du mit dieser Dankbarkeitsnummer aufgehört“, sagt Fidi, der kein Typ für Sentimentalitäten ist, und Culle räuspert sich. Und schiebt dann doch eine kleine Rechtfertigung hinterher: „Die musste halt auch irgendwie raus, diese Dankbarkeit, die steckte einfach in mir. Es ging dann irgendwann, weil ich wusste und eingesehen habe: Ich hätte das für dich auch gemacht.“

Die Geschichte der Geschwister Carl ist eine Geschichte mit Happy End. Wie vorher ist trotzdem nichts. Ein Leben lang muss Ursula Carl Immunsuppressiva nehmen, Mittel, die ihre Abwehrkräfte so sehr drosseln, dass der Körper das fremde Organ nicht abstößt. Er ist dadurch auch anfälliger für andere Keime. Das hat Konsequenzen: Eine Grippe kann plötzlich alarmierend sein. Culle darf nur essen, was man auch Schwangeren empfiehlt. Keine rohen Lebensmittel, keine frische Eiscreme im Sommer, nur pasteurisierten Käse, nur Durchgebratenes, in Restaurants lieber keinen Salat. Nicht für neun Monate. Sondern bis auf Weiteres.

„Viele unterschätzen, dass so eine Transplantation ein großer Eingriff ist“, sagt Professor Nashan. „Danach ist man in der Regel erst mal platt.“ Bei Culle und Fidi sei zwar „alles perfekt gelaufen: perfektes Organ, perfekter Zeitpunkt“. Und dennoch, darauf legt der Mediziner Wert, ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Friedrich Carl hat nach der Operation ein paar Tage bei einem seiner Arbeitgeber, im Hotel The George, verbracht, ein Angebot, „damit sich wenigstens ein Zimmerservice um mich kümmert“, flachst er. Seine Schwester hat in der Reha gesehen, dass es auch anders laufen kann. Hat Menschen mit „zermürbten Gesichtszügen“ getroffen, schwache Transplantierte, aber auch Spender, denen es teilweise schlechter ging als den Empfängern. Doch, gibt sie zu, sie sei schon demütiger geworden. „Man merkt einfach, was für ein wichtiger Wert die Gesundheit ist. Alles andere kann man beeinflussen. Bei der Gesundheit muss man einfach auch Glück haben.“

Fidi nickt. Und angelt schon wieder nach seinem Zigarettenpäckchen. Von Demut will er lieber nicht so viel wissen. Das Leben soll weitergehen, die Transplantation war ein Kapitel, ein Unterkapitel, mehr nicht. „Es ist ja nicht so, dass ich noch einmal davon gekommen wäre. Es war ja alles richtig so, wie ich bislang gelebt habe!“ Er steht auf, klopft die Zigarette einmal auf den Tisch, seine Schwester lächelt ein nachsichtiges Er-ist-ja-erwachsen-Lächeln.

„Ich sehe zwar die Narbe“, sagt Fidi und dreht sich mit Feuerzeug und Zigarette Richtung Tür, „aber ich merke nichts! Gar! Nichts!“ Zigarette zwischen die Lippen. „Oder, warte mal, doch. Ich merke eine leichte Aversion gegen Wein.“ Er bleibt kurz stehen und grinst sein jungenhaftes Grinsen: „Aber Wodka geht!“