Eine kleine Siedlung an der äußersten Nordgrenze des Fränkischen Reichs: Das ist die „Hammaburg“ im 9. Jahrhundert. Die 200 Einwohner fühlen sich dennoch sicher – eine fatale Fehleinschätzung…

Bodowin nimmt es nicht besonders wichtig. Was geht es ihn an? Er hatte ohnehin noch nie etwas mitbekommen von diesem Krieg. Der war weit weg. So weit, dass man viele Wochen, wahrscheinlich mehrere Monate, reisen müsste, um mittendrin zu sein.

Nun sei er jedenfalls vorbei, der Bruderkrieg, sagt sein Vater Bodobert. Die Söhne des toten Königs Ludwig hätten sich geeinigt und das Reich geteilt. Das hatte er von Chlotar gehört, dem Diakon, der drüben in der Feste lebt, und der hatte es direkt von Ansgar, dem Erzbischof und Herrn der Siedlung. „Und wer ist jetzt unser König?“, fragt Bodowin seinen Vater. „Ludwig“, antwortet der. Derselbe Ludwig, der es auch schon vorher gewesen war. Bodowin zuckt mit den Schultern. Was geht es ihn an? 17 Jahre ist er jetzt alt, und sein ganzes Leben hat er hier in der Hammaburg verbracht. Bodowin ist Weber, wie sein Vater. Der war 826 mit seiner Frau Odilgard aus dem Weserbergland nach Norden gezogen: Schon der alte Kaiser Karl hatte an der Alster eine Kirche bauen lassen, damit von hier aus die Slawen und die Germanen des Nordens zum Christentum bekehrt werden; sein Sohn, Kaiser Ludwig der Fromme, hatte sogar einen Erzbischof in den Norden geschickt. „Das hat Zukunft“, hatte das junge Ehepaar gedacht.

Das Leben ist wirklich nicht schlecht in der kleinen Siedlung mit ihren gut 200 Bewohnern. Schweine, Gänse und Hühner hält die Familie; in Alster und Elbe gibt es reichlich Fisch, die riesigen Wälder bieten Wild, Pilze und Beeren: Es gibt genug zu essen für die vier Kinder. Regelmäßig kommen auch Händler in die Hammaburg, bei denen man eiserne Werkzeuge, Töpfe aus Speckstein, Salz und Wein bekommen kann – wenn man etwas zu tauschen oder womöglich sogar Geld hat. Und sicher ist es hier auch: Wer wohnt schon direkt neben einer großen Burg? Da ist es auch nicht weiter schlimm, dass die Soldaten schon vor ein paar Jahren abgezogen sind, um mit Ludwig Krieg gegen seine Brüder zu führen.

Krieg, das ist etwas für adlige Herren, das weiß Bodowin. Und dass er immer weit weg ist, das denkt er – an diesem Sommertag im Jahr 845 nach Christus.

20 Kilometer weiter sitzt Ragnar am Lagerfeuer und hängt seinen Gedanken nach. Das Los hatte ihn als Nachtwache bestimmt. Mehr als 300 Männer liegen in dem provisorischen Nachtlager am Flussufer, er ist einer von knapp 20, die wachen müssen. Doch schlafen hätte er wohl sowieso nicht können, obwohl sie den ganzen Tag an den Rudern gesessen hatten. Seine Gedanken kreisen um den nächsten Morgen. Wird er sich bewähren im Kampf? Und vor allem: Welche Beute erwartet ihn? In seinen Träumen hatte er sich immer große Schatzkisten ausgemalt, voll mit Gold, Silber und Edelsteinen. So war es immer gewesen, seit damals …

Ragnar ist vielleicht sieben Jahre alt, als er die erste Geschichte hört. Sein Onkel Thorwald erzählt sie, und wie zum Beweis zeigt er die Silbermünze mit dem Bild eines Kaisers darauf herum.

Sie sitzen am Feuer im Langhaus seines Vaters, und Ragnar weiß, dass er diese Geschichte nie vergessen wird: die Fahrt aufs Meer mit 25 Schiffen, den Sturm, die Kämpfe und die Reichtümer, die sein Onkel mit nach Hause gebracht hatte. Gold, Schmuck, Waffen, eiserne Töpfe, Gewürze. Thorwald ist ein gemachter Mann. Er hat die Frau eines reichen Bauern aus Angeln geheiratet, und beim Thing, der Versammlung der freien Männer, wird er als einer der Ersten gehört.

Sieben Geschwister hat Ragnar, vier Brüder, drei von ihnen älter als er. Nur der älteste wird den Bauernhof erben, der gerade mal genug abwirft, damit sie nicht hungern müssen. Als er 13 ist, nimmt ihn sein Vater zum ersten Mal mit nach Ribe. Die Stadt an der Nordsee ist Dänemarks Tor zur Welt. Und ungeheuer reich. Händler aus England sind hier, aus dem Frankenreich und manchmal sogar aus Al Andalus, aus dem maurischen Spanien. Ragnar hört fremde Sprachen, sieht dunkelhäutige Menschen, bestaunt im Hafen große Schiffe aus dem Süden. Die Rückkehr in das strohgedeckte Lehmhaus seines Vaters fällt ihm schwer. Wann immer die Arbeit auf dem Feld und in den Ställen es zulässt, trainiert er nun mit einem alten Schwert und übt sich zusammen mit den Brüdern im Speerwerfen. Sein Entschluss steht fest: Ragnar will auf Viking, auf Raubfahrt, gehen. Wie Onkel Thorwald.

19 Jahre alt ist Ragnar, als er hört, dass Krieger gesucht werden, um in der Fremde Beute zu machen. Björn, der wichtigste Häuptling hier im Westen Jütlands, will im Frühjahr in See stechen – mit 20 Schiffen und dem Segen des Königs. Ragnar ist ungewöhnlich groß, selbst für einen „Nordmann“, wie die Skandinavier in Mitteleuropa genannt werden: Mit 1,85 Meter überragt er viele um Kopfeslänge. Er ist jung, stark, ungebunden, abenteuerlustig – ein idealer Kandidat. Björn wählt ihn als einen der Ersten aus. Zwei große Raubzüge der Dänen gibt es in diesem Jahr – doch Ragnar hat Pech. Nicht ins ferne, sagenumwobene (und sagenhaft reiche) Paris geht es für ihn. Auf Ragnar wartet nur eine eher kurze Reise: die Elbe hinauf.

Ein paar Dörfer hatten sie auf ihrem Weg überfallen, um Vieh zu erbeuten. Das Ziel der Reise ist aber eine Burg: die Hammaburg. Denn dort gibt es eine Kirche und einen Erzbischof. Und die Kirche ist unermesslich reich, hatte Björn versichert. Und Sklaven würden sie finden, die sind immer ein sicheres Geschäft. Und vor allem: Es würde nicht viel Gegenwehr geben. Denn das so mächtige Frankenreich führt Krieg gegen sich selbst. Bodowin will gerade Wasser holen, als er das Geschrei hört: Ein Fischer hat die Segel der Drachenboote gesehen, nur noch gut einen Kilometer entfernt. Die kleine Glocke wird geläutet, auf einmal rennen alle wild durcheinander. Viele raffen alles Wertvolle zusammen und rennen in die Burg. Plötzlich kommt sie ihm so klein vor. Der Graben ist doch nur eine Mulde, der Wall nur ein paar Meter hoch, die Holzpalisade so dünn und misst gerade mal 2,50 Meter …

„Der Antichrist kommt über uns“, hört er einen Mönch jammern. Fast alle Bewohner sind jetzt in der Burg versammelt. Nur wenige fehlen: Einige sind fischen, zwei sind auf der Jagd – und der Erzbischof Ansgar ist auf der Flucht. Mit den Reliquien und etwas Silber ist er zusammen mit ein paar Getreuen elbaufwärts geritten. Auch andere fliehen jetzt in die Wälder. Bodowin hat sich noch nie so verlassen gefühlt. Seine Mutter betet – aber nicht zum Christenherrn, sondern zu den alten Göttern.

Als der erste Däne an Land geht, herrscht Panik in der Hammaburg. Allen ist klar: Wenn die Wikinger eindringen, werden sie sterben oder in der Sklaverei enden. Der Großteil der Nordmänner umstellt die kleine Fluchtburg, rund 100 Krieger stürmen das Dorf. Es dauert nicht lange, bis die ersten die Palisaden mit Leitern überwinden und das Haupttor öffnen. Als Ragnar mit seinem Trupp hindurchläuft, sieht er schon zwei Dutzend Tote herumliegen. Niedergestreckt von Streitäxten, einige von Speeren durchbohrt. Ragnar ist dabei, als das hölzerne Hauptgebäude erstürmt wird: das Haus des Bischofs. Einen alten Mann, der betend und angsterfüllt vor einer Tür kauert, tötet er mit seiner Axt. Doch dahinter befindet sich nicht die erhoffte Schatzkammer, nur ein Schlafraum. Das kleine silberne Kreuz über dem Bett steckt er ein.

Mehrere Stunden dauert das Morden und Stehlen. Gegenwehr haben nur wenige geleistet – und die sind jetzt tot. Viele der Flechtwerkhäuser stehen in Flammen. Einige Dutzend Bewohner liegen gefesselt auf dem Boden. Viele Hammaburger schauen apathisch, manche schluchzen. Ein Mönch sagt, dies sei die Strafe Gottes für ihr sündiges Leben. Eine Alte erwidert, der Christengott sei eben schwach – dies sei Thors Werk.

Am Abend ist das Gelage der Wikinger weit zu hören. Nur zwei von ihnen sind getötet worden. Die anderen haben Vieh geschlachtet und etwas Wein und reichlich Bier erbeutet; alle betrinken sich, und in der Nacht holen sich einige von ihnen gefangene Frauen auf ihr Lager – manche von ihnen werden den nächsten Morgen nicht erleben.

Bodowin versteckt sich mit seiner kleinen Schwester in den Wäldern

Bodowin erwacht mitten im Wald, seine zehn Jahre jüngere Schwester Mechthild liegt an ihn gekuschelt. Die Wunde an seinem linken Arm ist blutverkrustet. Er kann sich kaum mehr erinnern, wie lange er mit der Kleinen auf dem Arm gelaufen ist, bis er erschöpft zusammenbrach. Wie er es in dem Chaos des Angriffs geschafft hat, doch noch aus der Hammaburg zu fliehen. Wie er plötzlich diesen riesigen jungen Nordmann sah, der seine Wurfaxt nach ihm schleuderte und ihn am Arm traf. Alles kommt ihm jetzt so unwirklich vor.

Vier Tage bleiben die beiden in den Wäldern, ernähren sich von Beeren und ein paar Wurzeln, bis sie sich zurückwagen. Die Drachenboote sind verschwunden. Wie sein Zuhause. Gerade mal eine Handvoll Häuser stehen noch, alles andere ist Opfer der Flammen und der Zerstörungswut geworden. Die Hammaburg ist nurmehr eine Ruine, noch immer liegen Leichen herum, es stinkt entsetzlich. Dann entdeckt Bodowin den toten Körper seines Vaters – grässlich entstellt von den Hieben der Wikinger und den Bissen der Krähen. Von der Mutter und den Geschwistern gibt es keine Spur – sie wurden verschleppt. Bodowin und seine Schwester stehen vor dem Nichts.

Ragnar ist mit sich zufrieden. Er hat sich im Kampf bewährt, und es war ein gelungener Raubzug. Nur Anführer Björn ist nicht ganz glücklich. Der Erzbischof hatte fliehen können – wurde er gewarnt? Er wäre eine wertvolle Geisel gewesen. So hält sich die Beute in Grenzen: ein wenig Gold, 20 Pfund Silber, einige wertvolle Bücher, viele Werkzeuge und Kochgeschirr, Vieh und Wein – und knapp 80 Sklaven. Sie werden sie in Ribe verkaufen.

Dort trifft Ragnar im Herbst des Jahres seinen Onkel Thorwald wieder, der im Sommer beim Zug gegen Paris dabei war – und der war für die Wikinger sogar ohne Kampf ein gigantischer Erfolg. 5000 Pfund Silber hatten die Pariser für den Abzug der Nordmänner bezahlt. Ragnar hatte einen kleinen Beutel Silbermünzen und ein Fass Rheinwein nach Hause gebracht. Er schließt sich Thorwald an, der nun ein eigenes Schiff bauen und ausrüsten kann.

In den kommenden Jahren gehen Onkel und Neffe fast jeden Sommer auf Raubzug: nach England, Frankreich und sogar Spanien. Dort ist Ragnar auch 861 dabei, als eine große Wikingerflotte von den Arabern geschlagen wird. Thorwald stirbt in der Schlacht. Ragnar, der 853 eine Händlertochter aus Haithabu geheiratet hatte und vier Kinder hat, geht noch Ende der 60er-Jahre auf Viking-Fahrt, dann setzt er sich in Schonen, wo er einen großen Hof gekauft hatte, zur Ruhe. Gicht und Rheuma plagen ihn schon lange, er hat kaum noch Zähne. Doch sein ältester Sohn Zwend behandelt ihn gut und meist respektvoll – solange er sich nicht einmischt. Und seine Enkel lieben den alten riesigen Mann. Vor allem wenn er abends am Feuer Geschichten von seinen Abenteuern erzählt und das silberne Kreuz zeigt, das er damals nach heldenhaftem Kampf einem Erzbischof geraubt hat …

Die Hammaburger haben ihre Siedlung da schon längst wieder aufgebaut. In den Tagen nach dem Überfall kommen immer mehr Geflüchtete zurück, 27 sind übrig geblieben. Sie beerdigen die Toten und richten ein paar Häuser mühsam wieder her. Es dauert viele Wochen, bis sie etwas von Ansgar hören, dem geflohenen Erzbischof. Er schickt seinen Diakon Chlotar, und der versucht, Optimismus zu verbreiten.

Die ersten Jahre sind hart. Doch nach und nach kommen neue Siedler aus dem Süden, und die Kirche hilft beim Wiederaufbau, mit Vieh und Saatgut, mit Werkzeug und etwas Geld. Ohne solche Privilegien will niemand in das gefährliche Land nördlich der Elbe, wo nicht nur Wikinger, sondern auch feindliche Slawenstämme eine ständige Bedrohung sind.

Nach 20 Jahren aber leben sogar mehr Menschen rund um die Hammaburg als vor dem Überfall. Die Kirche ist neu erbaut, nur der Erzbischof ist nie zurückgekehrt – dem erscheint das Leben in Bremen sicherer. Bodowin heiratet die Tochter eines Schmieds, der aus der Gegend von Ramelsloh gekommen war. Er ist Weber wie sein Vater, und Bauer ist er auch. Die Priester sagen, er habe Gottes Segen, denn von seinen elf Kindern sterben nur drei im Kindesalter. Sein ältester Sohn Liudolf geht mit einem Händler auf Reisen. Bodowin erlebt noch, dass er 870 zurückkehrt und sich als Kaufmann in Hammaburg niederlässt, und er sieht voller Stolz, dass sein Sohn es zu etwas Wohlstand bringt. Nur nachts, da wacht Bodowin manchmal schweißgebadet auf. Und dann sieht er diesen riesigen jungen Nordmann, der seine Axt nach ihm schleudert.

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