Von der Niederlage beim Volksentscheid über die Netze bis zu den Lampedusa-Flüchtlingen: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz regiert auch 2013 betont rational.

Im Augenblick seiner größten Niederlage im Jahr 2013 reagierte Bürgermeister Olaf Scholz cool, man könnte sagen, total cool. Am 22. September sprachen sich die Hamburger, denkbar knapp zwar, per Volksentscheid für den vollständigen Rückkauf der Energienetze aus, gegen den kaum einer so heftig gestritten hatte wie eben Sozialdemokrat Scholz. Und was sagte der, als das Ergebnis spät am Abend feststand? „Volksentscheide sind Abstimmungen über Sachfragen, und in dieser Frage hat das Volk anders entschieden als Senat und Bürgerschaft zuvor.“ Der Senat habe Vorsorge für diesen Fall getroffen und werde den Volksentscheid „nicht ins Leere laufen lassen“.

Jede Niederlage des HSV sorgt bei den Betroffenen für erheblich mehr Emotionen als dieser empfindliche Rückschlag bei Scholz, der den Senat zur Korrektur seiner Energiepolitik zwingt und die Energiewende à la Scholz zur Makulatur gemacht hat. Nach Auskunft von Gewährsleuten war der Bürgermeister auch persönlich nicht besonders niedergeschlagen, als klar war, dass sich die Hamburger erstmals seit seinem Wahltriumph 2011 gegen ihn gestellt haben. So etwas nennt man locker abtropfen lassen.

Mangelnde Professionalität kann man den regierenden Sozialdemokraten an dieser Stelle ohnehin nicht vorwerfen. Noch am Wahlabend zog SPD-Fraktionschef Andreas Dressel einen Zehn-Punkte-Plan aus der Tasche, mit dem die eigene Energiepolitik in weiten Teilen rückabgewickelt und Verhandlungen mit den Energieversorgern Vattenfall und E.on über den Rückkauf der Netze eingeleitet werden. Jetzt, zum Jahreswechsel, laufen die Gespräche darüber, ob es sogar zu einem einvernehmlichen Rückkauf der Netze anstelle langwieriger juristischer Auseinandersetzungen kommen kann. „Am Ende ist das eine Frage des Geldes“, sagte Scholz vor wenigen Tagen im Abendblatt-Interview, wenngleich eine Einigung unter Insidern als doch recht unwahrscheinlich gilt. Bislang hat aber nicht einmal BUND-Geschäftsführer Manfred Braasch, Initiator und Gesicht des Volksentscheids, einen Grund gefunden, Scholz bei der Umsetzung des von ihm abgelehnten Netze-Rückkaufs mangelndes Engagement vorzuwerfen.

Wem die Rohre und Kabel, durch die Strom, Gas und Fernwärme geleitet werden, gehören und wer sie betreibt – das ist eines der dicken Bretter, die jeder Senat bohren muss und zwar in der Regel länger als eine Legislaturperiode. Auch die anderen Mega-Themen haben den Senat im ablaufenden Jahr, mehr als ihm lieb sein konnte, beschäftigt. Die Sanierung der skandalumwitterten HSH Nordbank kommt nur mühsam voran – wenn überhaupt. Der im Dezember bekannt gewordene Vorwurf, die Bank im Mehrheitsbesitz der Länder Schleswig-Holstein und Hamburg habe möglicherweise mehr als 100 Millionen Euro Steuern hinterzogen, wirkt jedenfalls eher kontraproduktiv.

Auch das mehr als 400 Millionen Euro teure unternehmerische Engagement des Senats bei der Traditionsreederei Hapag-Lloyd ist bislang nicht von Erfolg gekrönt. Entgegen allen optimistischen Prognosen von Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos) steht auch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Elbvertiefung immer noch aus und kommt nun frühestens im Sommer 2014.

Allein beim Großprojekt Elbphilharmonie ist eine gewisse Entspannung eingetreten. Nachdem Bürgermeister Scholz vor gut einem Jahr nach einem nervenaufreibenden Showdown doch noch zu einer Einigung mit dem Baukonzern Hochtief gekommen war und die Stadt noch einmal 200 Millionen Euro draufzahlte, drehten sich 2013 nun wieder die Baukräne über dem Hafenrand. Und Hochtief liegt sogar im vertraglich vereinbarten Zeitrahmen. Wenn weiterhin alles nach Plan läuft, könnte das Konzerthaus tatsächlich im Frühjahr 2017 eröffnet werden – nach fast zehnjähriger Bauzeit immerhin.

Es waren nicht die großen Themen, die für kräftige Nadelstiche bei den allein regierenden Sozialdemokraten gesorgt haben. Den Anlass für Empörung und heftige Kritik der Opposition lieferte häufig eher die Art und Weise, wie die Senatspolitik umgesetzt wird, oder auch vermeintlich ganz normales Verwaltungshandeln. Schulsenator Ties Rabe (SPD) musste sich vorwerfen lassen, dass das ehrgeizige Ausbauprogramm von Ganztagsschulen an etlichen Standorten zu schwer erträglichen Provisorien führe. CDU, FDP, Grüne und Linke halten dem Schulsenator außerdem vor, die Stadtteilschulen mit den Belastungen durch die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Inklusion weitgehend allein zu lassen.

Im Juli konnte ein Häftling aus dem Untersuchungsgefängnis fliehen, indem er das marode Mauerwerk mit Löffel und Gabel so lange bearbeitete, bis er durch das Loch passte und sich mit einem Bettlaken abseilen konnte. Der Sanierungsbedarf des Altbaus ist seit Jahren bekannt. Geschehen war bis zum Ausbruch nichts. Dass der Mann die Außenmauer an einer Stelle überwinden konnte, wo der Sicherungszaun wegen Bauarbeiten fehlte, passte ins arg löchrige Sicherheitsbild. Für Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) wurde der Fluchtfall nur deswegen politisch nicht gefährlich, weil die Polizei den Intensivtäter nach drei Tagen festnehmen konnte, ohne dass er eine neue Straftat begangen hatte.

Dass Umweltsenatorin Jutta Blankau (SPD) zum Abschluss der Internationalen Gartenschau (igs) in Wilhelmsburg ein dickes Minus von 37 Millionen Euro präsentieren musste, kann auch kaum als Ausweis „guten Regierens“ durchgehen, das sich Scholz zum Motto seines Senats erkoren hatte. Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass die Planung der igs weit in schwarz-grüne Zeiten zurückreicht. Die Liste der Unzulänglichkeiten ließe sich fortsetzen. Bemerkenswert ist, dass die Opposition daraus noch nicht spürbar Kapital geschlagen hat. Das liegt auch an einem besonderem Merkmal des Scholzschen Regierungsstils. Nie würde der Bürgermeister ein Senatsmitglied öffentlich rüffeln. Diese Form praktizierter Solidarität, die nicht alle von Scholz’ Vorgängern pflegten, führt zu einer starken Homogenität des Regierungslagers. Anders als bei früheren Gelegenheiten hat die SPD die absolute Mehrheit auch nicht zu innerparteilichen Auseinandersetzungen genutzt – etwa beim Thema Netze-Rückkauf, der in der SPD durchaus auf starke Sympathien trifft. Scholz’ Führungsrolle ist nach wie vor unumstritten.

Nur einmal drängte Scholz einen Parteifreund zum Rücktritt

Das Krisenmanagement des Bürgermeisters funktioniert durch interne Eingriffe. Nur einmal drängte er einen Parteifreund zum Rücktritt: Markus Schreiber musste bereits Anfang 2012 als Bezirksamtsleiter Mitte seinen Hut nehmen, nachdem Versäumnisse seiner Behörde im Zusammenhang mit dem Tod der elfjährigen Chantal offenkundig geworden waren. Das Pflegekind, das unter der Aufsicht des Jugendamts Mitte stand, war an einer Methadon-Vergiftung gestorben. Vor wenigen Tagen erschütterte der Tod der drei Jahre alten Yaya, die nach einem Leberriss an inneren Blutungen gestorben war, die Stadt. Gleich drei Jugendämter waren an der wechselnden Unterbringung Yayas zwischen Pflegefamilie und den leiblichen Eltern beteiligt. Scholz hat sofort eine umfassende Aufklärung angekündigt – „ohne falsche Rücksicht“. Manche haben das wohl zu Recht als Drohung verstanden.

Am stärksten hat jedoch die Diskussion über den richtigen Umgang mit den Flüchtlingen der so genannten Lampedusa-Gruppe das politische Klima in der Stadt verändert. Die rund 300 Männer, die zum Teil monatelang in der St.-Pauli-Kirche lebten, haben eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung erfahren, aber sie haben auch der gewaltbereiten, extremen Linken ein Thema gegeben. Scholz hatte früh auf den rechtsstaatlichen Weg verwiesen: Wie alle anderen Flüchtlinge müssten die Lampedusa-Männer – so benannt nach der italienischen Mittelmeer-Insel, über die sie nach Hamburg kamen – ihre Identität preisgeben und ihre Fluchtgeschichte erzählen. Erst dann könne über einen Aufenthalt in Deutschland entschieden werden. Doch dazu waren die Männer aus Afrika lange nicht bereit. Sie fordern mit Unterstützung von Flüchtlingsorganisationen ein dauerhaftes Bleiberecht als Gruppe.

Der Bürgermeister hatte frühzeitig für Unmut bei den Flüchtlingen und ihren Unterstützern gesorgt, als er sagte, er sehe für die Lampedusa-Gruppe „keinen Platz“ in Deutschland. Die monatelange Hängepartie hat zu einer zunehmenden Radikalisierung geführt: Farbanschläge auf Privathäuser von Politikern, auch auf das Haus, in dem Scholz wohnt, waren die Folge. Unrühmlicher Höhepunkt war ein seit Jahren nicht erlebter Gewaltausbruch bei der Demonstration am 21. Dezember. Nun ging es der linken Szene nicht mehr nur um „Refugees“, die Flüchtlinge. Auch die von Eigentümer Klausmartin Kretschmer betriebene Räumung der besetzten Roten Flora im Schanzenviertel sorgte für Mobilisierung.

In der Sache ist dem Bürgermeister nicht zu widersprechen: Warum sollte es für eine besonders gut organisierte Gruppe von Flüchtlingen Ausnahmen von den Regelungen des Asylrechts geben? Doch Scholz muss sich auch vorhalten lassen, dass er es versäumt hat, Brücken der Verständigung zu den Unterstützern zu bauen. Mit anderen Worten: Wo werbende Worte der Erklärung des eigenen politischen Standpunktes nötig gewesen wären, war häufig nur kühle Rechtsauslegung zu spüren.

Politische Coolness, wie nach dem verlorenen Volksentscheid zum Netze-Rückkauf, sind im harten politischen Geschäft unerlässlich. Kühle zu verbreiten, die häufig als Abgehobenheit, wenn nicht Arroganz interpretiert wird, kann schnell politisch gefährlich werden. Das ist selbst für den beliebten Olaf Scholz und die allein regierende SPD mit Blick auf die Bürgerschaftswahl im Februar 2015 durchaus riskant.