Ob bei Bevölkerungszahlen, Haushalt oder Wohnungsbaugenehmigungen: Angaben von Behörden weichen häufig stark voneinander ab. Nun widerspricht der Senat sogar dem Statistikamt Nord.

Sind wir nun 1.706.696? Oder 1.761.641? Oder sogar 1.789.141? Die Verwirrung war groß, als das Statistikamt Nord Ende Mai bekannt gegeben hatte, dass in Hamburg mitnichten fast 1,8 Millionen Menschen leben, sondern nur 1.706.696. Das war das Ergebnis des Zensus, einer Art kleinen Volkszählung, zum Stichtag 9. Mai 2011. Abgesehen von der Symbolkraft einer wachsenden Stadt, die der SPD-Senat durchaus anstrebt, hat der Vorgang auch sehr handfeste Auswirkungen: Er kostet Geld, sehr viel Geld. Jeder Einwohner mehr bringt der Stadt über den Länderfinanzausgleich um die 1000 Euro. Umgekehrt bedeutet das: 83.000 Einwohner weniger als gedacht, wie die Statistiker errechnet hatten, würde Hamburg etwa 74 Millionen Euro kosten.

Insofern verwunderte es nicht, dass der SPD-Senat in dieser Woche einen ungewöhnlichen Schritt ging. Kaum hatte das Statistikamt mitgeteilt, dass die Bevölkerung der Hansestadt sich seit dem Zensusstichtag schon wieder auf 1.734.272 erhöht habe, teilte das Rathaus mit, dass die Stadt Widerspruch gegen die Erhebung einlege. Denn nach Meinung des Senats leben an Alster und Elbe etwa 55.000 Menschen mehr. Das gehe aus eigenen Daten hervor, etwa der Schulbehörde über Schülerzahlen oder der Finanzämter über Steuerpflichtige. Das Merkwürdige daran: Die Statistiker hatten zwar einerseits nur die Ergebnisse der schriftlichen und mündlichen Befragung von Zehntausenden Hamburgern hochgerechnet, andererseits hatten sie aber auch ausdrücklich vorhandene Daten aus Verwaltungsregistern verwendet. Zusammengefasst: Die Stadt widerspricht den Zahlen einer Einrichtung, die sie gemeinsam mit Schleswig-Holstein selbst betreibt und die ihre Zahlen wiederum aus Registern der Stadt hat.

Ein Einzelfall aus Absurdistan? Keineswegs. Der Streit um Statistiken berührt auch zwei Top-Themen dieser Wahlperiode: Wohnungsbau und Haushaltssanierung. So hatte der Senat, der den Bau von 6000 Wohnungen pro Jahr angekündigt hat, im Juni stolz mitgeteilt, dass 2012 exakt 8731 Wohnungsbaugenehmigungen erteilt worden seien. Mal ganz abgesehen davon, dass eine genehmigte noch keine gebaute Wohnung ist, stimmte diese Zahl nicht mit denen des Statistikamt Nord überein. Das hatte den Wert kurz zuvor mit 8162 angegeben. Auch für 2011 lagen der Senat (6811 Genehmigungen) und seine eigenen Statistiker (5061) weit auseinander. Besonders merkwürdig: 2010, also vor dem Regierungswechsel und der Ausrufung der 6000-Zielmarke, hatten die Zahlen (4129) noch übereingestimmt. „Wählertäuschung“ nennt die CDU das. Die Baubehörde hat eine verblüffende Erklärung: Während sie ihre Zahlen neuerdings direkt von den Bezirken beziehe, setze das Statistikamt auf Berichte der Bauherren – die lieferten aber nicht so zuverlässig. Außerdem würden Neubaugenehmigungen und Abrisse alter Wohnungen miteinander verrechnet. Mit anderen Worten: Was die Stadt und ihr eigenes Statistikamt veröffentlichen, ist nicht vergleichbar.

Die Deutungshoheit in Sachen Haushalt entwickelt sich gar zu einem Kleinkrieg zwischen dem CDU-Experten Roland Heintze und der Finanzbehörde. Die Fronten sind klar gezogen: Im Viertel- bis Halbjahrestakt präsentiert Heintze Berichte der Bundesbank oder des Bundesfinanzministeriums, die die Lage der Bundesländer vergleichen. Nicht selten schneidet Hamburg dabei mies ab, oder die Hochrechnung von Viertel- oder Halbjahresstatistiken deutet auf einen schlechteren Jahresverlauf als vom Senat geplant. Die Reaktion aus der Behörde ist stets die gleiche und bisweilen schon leicht genervt: Stichtagsbetrachtungen dürfe man nicht hochrechnen, weil Einnahmen und Ausgaben nun mal nicht linear fließen, heißt es. Und tatsächlich hat Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) für 2011 und 2012 Abschlüsse präsentiert, wonach er die festgelegte Ausgabenobergrenze eingehalten und weniger Schulden gemacht hat als geplant.

Dennoch – oder gerade deshalb – tobte der Streit in dieser Woche besonders erbittert. Heintze verwies auf einen Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), wonach Hamburg 2012 ein strukturelles Defizit von 903 Millionen Euro hatte – fast doppelt so viel wie nach Senatsangaben und gegenüber 2011 gemessen an der Bevölkerungszahl die größte Steigerung aller Bundesländer. „Die SPD zeigt keinerlei Anstrengungen in der Finanzpolitik“, wetterte der CDU-Politiker. Im Senat hingegen konnte man sich die RWI-Zahlen nicht erklären. Seinen Angaben zufolge war das Defizit 2012 nur minimal gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Über das „aggregierte Quotierungsverfahren“, die komplexe Rechenmethode des RWI, lästerte ein Haushälter in der Finanzbehörde: „Methode absurd, Zahlen falsch.“ Sogar der Bürgermeister war erbost: „Nicht nachvollziehbar“ sei der RWI-Bericht, zürnte Olaf Scholz.

Heintze wertete die Aufregung eher als Beleg für seine Kritik. Es sei doch merkwürdig, dass sich in anderen Bundesländern niemand über das RWI beschwert habe. Schließlich seien alle nach der gleichen Methode bewertet worden – und das auf Basis von Angaben aus den Ländern... Wirklich zutreffend ist in diesem Fall wohl nur eine Volksweisheit: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Soll von Churchill sein. Es gibt aber auch Experten, die etwas anderes behaupten.