Vor zehn Jahren wählte die Bürgerschaft Ole von Beust zu Hamburgs Ersten Bürgermeister. So war's - ein Rückblick auf die turbulenten Politikzeiten.

Hamburg. Zum Start des Neuen ins hohe Amt hatte das Abendblatt den moralischen Zeigefinger erhoben. "Die Pflicht beginnt, Herr Bürgermeister", lautete die Schlagzeile der Titelseite am Tag nach der Wahl Ole von Beusts zum Ersten Bürgermeister am 31. Oktober 2001. Der mahnende Unterton galt einem Mann, den viele bis dahin als politischen Sonnyboy sahen, auch weil er nicht über die Maßen ehrgeizig oder gar machtbesessen war. Ihm eilte der Ruf eines "hanseatischen Hedonisten" voraus. Die Wahl dieses entspannten Christdemokraten beendete 44 Jahre SPD-Herrschaft im Rathaus. Am kommenden Montag liegt das für die Hamburger Nachkriegszeit historische Ereignis zehn Jahre zurück.

Als die Abgeordneten am 31. Oktober 2001 die Treppen hinauf und in den Plenarsaal der Bürgerschaft strömten, war die Stimmung so aufgeladen wie seit Langem nicht. Sicher: Es stand mit der Bürgermeister-Wahl ein Machtwechsel an, wie ihn die Stadt seit mehreren politischen Generationen nicht erlebt hatte. Im traditionell roten Hamburg regierten jetzt die Schwarzen! Die Sozialdemokraten wirkten noch wie betäubt vom Machtverlust. Und manch altgedienter Christdemokrat konnte sein schon nicht mehr für möglich gehaltenes Glück kaum fassen.

+++ Die schwarze Dekade mit Ole von Beust +++

Doch das war nicht alles, es war vermutlich nicht einmal das Wesentliche. Der Tag in der Bürgerschaft war nicht zuletzt deswegen ein mediales Ereignis, weil einer mit seinen Leuten auftrat, der die Stadt zuvor gespalten hatte wie kaum ein anderer: 40 Kamerateams und zahlreiche Kollegen von Radio und Zeitungen hatten sich angemeldet, weil Ronald Schill mit seinen 24 Abgeordneten-Kollegen der Partei Rechtsstaatlicher Offensive (kurz und treffender: Schill-Partei) Einzug hielt. Auf Schill, dessen 19,4 Prozent-Wahlergebnis von Beust erst die Regierungsmehrheit bescherte, richteten sich die Mikrofone. Und Schill, eben noch Außenseiter, genoss seinen Triumph, im Zentrum der Macht angekommen zu sein.

Die Verletzungen aus einem harten Wahlkampf, in dem Schill die regierenden Genossen im Bereich der inneren Sicherheit in die Enge getrieben und mit Zuspitzungen drangsaliert hatte, wirkten nach. Die Atmosphäre war in der Bürgerschaft von Beginn an vergiftet. Als ein ums andere Mal frenetischer Jubel in den Schill-Reihen ausbrach, fühlte sich mancher Oppositionsabgeordnete an Zustände in der späten Phase der Weimarer Republik erinnert. Michael Neumann, damals SPD-Fraktionsvize und heute Innensenator, nahm "eine Stimmung wie in einem schlechten Fußballstadion" wahr.

Die Wahl selbst bedeutete einen Dämpfer für den 46 Jahre alten von Beust: Nur 62 der 121 Abgeordneten stimmten für ihn. Das war eine Stimme mehr als unbedingt nötig. Zwei Parlamentarier aus dem eigenen Lager hatten sich offensichtlich verweigert. Doch diese kleine Illoyalität ging im großen Jubel unter. Von Beust ließ sich dennoch auch in diesem Augenblick des großen persönlichen Erfolgs nicht von Allmachtsgefühlen davontragen. Bei seiner Vereidigung unmittelbar nach der Wahl hatte er weiche Knie. "Jetzt wird's ernst. Das wurde mir in den Sekunden und im Zeitraffer klar", erinnert sich von Beust heute.

Auf den Trubel um seine Wahl im Rathaus folgte der erste Kater. "Ich saß allein zu Hause und wusste: Jetzt bin ich Bürgermeister, aber wie geht das eigentlich technisch?", erzählt der Altbürgermeister heute. "Wer macht die Tagesordnung des Senats? Was kann darauf und was muss darauf?"

Es war schon so: Die Stadtrepublik und ihre politischen Protagonisten hatten keine Übung mit einem Machtwechsel dieser Art. Damals war viel vom guten hanseatischen Stil auch in der Stunde der Niederlage die Rede. Ortwin Runde, der abgewählte Bürgermeister der SPD, zeigte sich als fairer Verlierer. Zwischen ihm und von Beust fand eine Amtsübergabe in gegenseitigem Respekt statt. Ganz anders in der Innenbehörde, die gewissermaßen die Hauptkampfzone während des Wahlkampfs war: Ein gewisser Olaf Scholz, als Kurzzeit-Innensenator der Hauptgegner von Schill, verweigerte seinem Nachfolger den Handschlag. "Wenn der neue Senator kommt, werde ich nicht mehr da sein", gab Scholz zu Protokoll. "Es gibt keine Notwendigkeit, mit Herrn Schill zu sprechen. Mich drängt auch nichts danach", setzte Scholz nach. Sehr staatsmännisch war das nicht. Es war diese Begleitmusik, die bei den neuen Regenten die große Sorge aufkommen ließ, dass eine SPD-durchwirkte Verwaltung gegen den neuen Senat arbeiten würde. Der "rote Filz" nach 44 Jahren SPD-Herrschaft war ein Thema im Wahlkampf gewesen. Trotzdem hatte von Beust, ganz Menschenfreund, zum Regierungsstart eine andere Losung ausgegeben: "Eine parteipolitische Tabula rasa wird es nicht geben. Ich gehe von der Loyalität der Mitarbeiter aus."

Bei Ronald Schill klang das schon anders. "Bei Obstruktionspolitik und Versuchen, uns auszubremsen, zeichnen sich Konsequenzen ab", lautete die kaum verhüllte Drohung. Tatsächlich verlor der damalige Polizeipräsident Justus Woydt (SPD) bald darauf sein Amt. Ansonsten verlief der Regierungswechsel personell weit weniger spektakulär als erwartet. Im Gegenteil: Von Beust beließ zunächst sieben SPD-Staatsräte im Amt und holte mit dem früheren Wandsbeker Bezirksamtsleiter Klaus Meister sogar einen Sozialdemokraten als Sozialstaatsrat neu dazu. Auch Hellmut Körner, Chef des Planungsstabs der Senatskanzlei und Sozialdemokrat, blieb im Amt. Sogar Schill machte später mit dem Rechtsanwalt Walter Wellinghausen einen SPD-Mann zum Staatsrat.

Dennoch: Das ungewöhnliche Bündnis aus CDU, Schill-Partei und FDP legte einen sehr holprigen Start hin. Von Beust gelang es nicht, bis zur Vereidigung seines Kabinetts eine Kultursenatorin zu finden. Die Sache war ohnehin schon peinlich genug, weil die CDU im Wahlkampf zunächst angekündigt hatte, den Posten des Kultursenators einsparen zu wollen. Nach massiven Protesten aus der Kulturszene machte von Beust eine Kehrtwende. Dann dauerte es 85 Tage, bis er nach vielen Absagen die parteilose Journalistin Dana Horáková präsentierte. Das in der Kulturpolitik zerschlagene Porzellan konnte diese Koalition nicht mehr kitten. Als wenig glücklich erwies sich auch der Plan des Mitte-rechts-Senats, auf eine Verlegung der Jugendhaftanstalt von Neuengamme nach Billwerder zu verzichten. Das hätte bedeutet, dass die KZ-Gedenkstätte Neuengamme nicht hätte eingerichtet werden können. Auch hier führten erst Proteste zu Einsicht und Umkehr.

Das politische Experiment, das am 31. Oktober 2001 seinen Anfang nahm, scheiterte schon gut zwei Jahre später krachend. Das Regierungstrio zerbrach an seiner Unerfahrenheit und den sehr unterschiedlichen politischen Temperamenten, die es vereinte. Nie zuvor und nicht seitdem glitt die Politik im Rathaus derart ins Operettenhafte ab. Ronald Schill regierte nach dem Lustprinzip. Meist interessierte ihn anderes mehr. Dann vergriff er sich in einer Rede vor dem Bundestag so stark im Ton, dass er die Nation gegen sich aufbrachte und Hamburg zum Gespött machte. Das harmlose Ansinnen eines Kirchenstaatsvertrags bügelte Schill zunächst mit dem Satz nieder: "Ein Hamburger kniet vor niemandem - auch nicht vor der Kirche."

Die auch gute Sacharbeit trat zunehmend in den Hintergrund, und am Ende war der spektakuläre Rauswurf Schills - er hatte gedroht, die angebliche Beziehung von Beusts zu Justizsenator Roger Kusch (damals CDU) öffentlich zu machen - die logische Konsequenz eines moralischen Bankrotts. Für die CDU und vor allem Ole von Beust persönlich zahlte sich der Rauswurf von Schill politisch aus. Die Union präsentierte sich als besonnene Kraft und holte mit ihrem strahlenden Bürgermeister ("Michel - Alster - Ole") 2004 die absolute Mehrheit.

Zehn Jahre danach sind bis auf Ex-Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (heute CDU-Europaabgeordnete) alle damaligen Senatoren einschließlich von Beust nicht mehr in der Politik - eine Generation ist abgetreten: Schill macht Dauerurlaub in Brasilien. Ex-Justizsenator Kusch scheiterte mit einer eigenen Partei und verkauft heute Todesautomaten an unheilbar Kranke. Der frühere Stadtentwicklungssenator Mario Mettbach (Ex-Schill) ist nach einem Selbstmordversuch in der Versenkung verschwunden. Die Christdemokraten Wolfgang Peiner (Finanzen) und Gunnar Uldall (Wirtschaft) haben das Rentenalter erreicht.

Ausgerechnet Olaf Scholz, der schlechte Verlierer von 2001, ist heute Erster Bürgermeister. Eine Ironie der Geschichte, wenn man so will. Ole von Beust, der die CDU an die Macht führte und mit seinem Rücktritt 2010 den Anfang vom Ende einleitete, ist mit sich im Reinen. "Ich bereue nichts. Das war der Beginn von fast zehn Jahren überwiegend guten und erfolgreichen Jahren", sagt er. Feiern wird von Beust am Montag nicht. "Das wird ein normaler Arbeitstag", sagt der Mann, der wieder als Rechtsanwalt arbeitet.

Peter Ulrich Meyer leitet das Landespolitik-Ressort des Abendblatts