Vor dem Landgericht wird der Prozess um das qualvolle Sterben des Babys aus Wilhelmsburg neu aufgerollt. Mutter zum zweiten Mal vor Landgericht.

Hamburg. Im Kinderzimmer der Wilhelmsburger Wohnung stank es bestialisch nach Urin und Fäkalien. Der Leichnam der neun Monate alten Lara Mia lag zwischen vollen Windeln und Unrat auf einer verdreckten, feuchten Matratze, als die Sanitäter sie am Morgen des 11. März 2009 fanden. Das Baby war nur noch Haut und Knochen, praktisch alle Fettdepots waren aufgezehrt.

Seit gestern steht die inzwischen 21 Jahre alte Mutter der toten Lara Mia zum zweiten Mal vor dem Hamburger Landgericht. Jessica R. ist eine junge, sehr zierliche, sehr blasse Frau. Eine dicke, blondierte Haarsträhne schirmt ihr Gesicht vor den Blicken der Zuschauer ab. Meist schaut sie zu Boden oder vergräbt das Gesicht in den Händen. "Ich möchte keine Angaben machen", sagt sie mit gepresster Stimme. Ihrem Mitangeklagten Daniel C., zeitweiliger Stiefvater von Lara Mia, bleibt eine Verhandlung zunächst erspart: Der 23-Jährige gilt als verhandlungsunfähig, nachdem er kurz vor dem Prozessauftakt einen Nervenzusammenbruch erlitt.

Im ersten Verfahren hatte das Landgericht Jessica R. und Daniel C. im Juli 2010 zu milden Jugendstrafen zwischen neun und 24 Monaten verurteilt. Zwar bejahte die Kammer einen Tötungsvorsatz, sprach die Angeklagten vom Vorwurf des "versuchten Totschlags durch Unterlassen" aber frei. Weil die beiden den Notarzt alarmierten, als sie das leblose Kind fanden, seien sie aus juristischer Sicht "strafbefreiend vom Totschlag zurückgetreten", so das Gericht damals.

+++Neuer Prozess um Lara Mia heute ohne Stiefvater+++

+++Tod der kleinen Lara Mia: BGH hebt Urteil auf+++

Beim Bundesgerichtshof (BGH) fiel die Konstruktion mit Pauken und Trompeten durch. "Allzu leichtfertig", rügte der BGH, hätte das Gericht angenommen, dass Daniel C. und Jessica R. den Tod des Kindes nicht erkannt hatten. Im Mai verwies der BGH den Fall nach Hamburg zurück. Jetzt wird neu verhandelt. Die Staatsanwaltschaft klagt Jessica R. unter anderem wegen "versuchten Totschlags durch Unterlassen" an. Die 21-Jährige habe Lara Mia schon im Oktober, also fünf Monate nach ihrer Geburt, nicht mehr ausreichend gefüttert, und obgleich das kleine Mädchen zunehmend schwächer wurde, habe die Mutter nichts dagegen unternommen. Am Ende wog das Kind mit 4,8 Kilogramm nur noch halb so viel, wie es in diesem Alter wiegen sollte.

Der Name des Babys steht nicht nur für eine unfassbare menschliche Tragödie - Lara Mia ist auch ein Symbol für das desaströse Versagen des Hamburger Fürsorgesystems.

Schon als Jessica R. mit 17 Jahren von einer Affäre schwanger wurde, kümmerten sich die Behörden um die angehende Teenie-Mutter. Am 16. Mai 2008 kam Lara Mia zur Welt. Das Kind war gesund, hatte große blaue Augen und eine Stupsnase. Jessica R. träumte von einer heilen Familie mit ihrem neuen Freund Daniel C. Nach der Geburt schaute Marianne K., eine erfahrene Betreuerin des Rauhen Hauses, teilweise mehrmals wöchentlich nach der Kleinfamilie. Weil das Mädchen trotzdem rapide abnahm, wandten sich die Tanten von Lara Mia und ihr Großvater mehrfach an den Kindernotdienst - nichts passierte. Noch Anfang März 2009 attestierte Marianne K. dem Mädchen, es sei "bei guter Gesundheit". Nur eine Woche später war Lara Mia tot - ob sie verhungerte oder am plötzlichen Kindstod verstarb, konnte die Rechtsmedizin nicht aufklären.

Es ist nicht ersichtlich, welche Gefühle oder ob die Aussagen der Zeugen zum Martyrium des Babys überhaupt eine Emotion bei Jessica R. auslösen. Sie wirkt völlig unbewegt. Ähnlich gleichgültig, so sagen es Polizisten aus, muss sie auch die Nachricht vom Tod ihres Kindes aufgenommen haben. Als die Polizei am 11. März ihre Wohnung durchsuchte, saß Jessica R. mit ihrem Freund auf der Couch. "Sie zeigte keine Gefühlsregung", erinnert sich ein Beamter vor Gericht. Für die Zuhörer ist es indes ein Prozess an der Grenze des Erträglichen. "Das Baby sah aus wie ein Kind aus Afrika", erinnert sich eine Nachbarin, die Lara Mia vermutlich im Herbst 2008 in der Wohnung sah. "Sie war so dünn, die Rippen standen hervor." Wäre es ihr Kind gewesen - ihr wäre angst und bange geworden.

Ihr sei schon aufgefallen, dass das Kind immer dünner wurde, teilte Jessica R. kurz nach dem Kindstod einem Vernehmungsbeamten mit. "Ich habe immer versucht ihr etwas zu essen zu geben, da wurde sie dick, kurz darauf aber wieder dünn", zitiert die Richterin aus dem Protokoll. Darin äußerte sich Jessica R. auch zum Geschehen an jenem 11. März: Wie sie zunächst mit dem Hund spazieren und dann nach Hause ging, wie sie dort über den Rücken ihrer Tochter strich, und, als die sich nicht bewegte, ihren Freund zu Hilfe rief, der noch erfolglos eine Mund-zu-Mund-Beatmung versuchte. Für Lara Mia kam jede Hilfe zu spät. Den Haustieren, einem Hund und einer Ratte, ging es indes prächtig - sie waren wohlgenährt. Der Prozess wird fortgesetzt.