Immer mehr türkische Eltern misstrauen dem staatlichen System in Deutschland und melden ihre Kinder an Privatschulen an.

Hamburg. Seine Tage beginnen um 5.30 Uhr früh. Mete steht auf, putzt sich die Zähne, frühstückt. Eine Stunde später steigt er in den Wagen seines Vaters Inayet. Der bringt ihn bis nach Othmarschen, wo der 13-Jährige die Bahn nimmt und um 7.40 Uhr das Alsterring-Privatgymnasium in Barmbek-Süd erreicht. Für seine Zukunft fährt Mete einmal quer durch die Stadt, was seine Eltern für zumutbar halten.

"Ich lege großen Wert darauf, dass Mete Abitur macht", sagt seine Mutter Naciye Sever. Mete ist ein aufgeweckter Junge. Er sitzt mit seiner Mutter im Lehrerzimmer der Schule. Sie trägt Kopftuch, er blaue Schuluniform, dunkle Haare und hat einen leichten Flaum über der Oberlippe. Und er trägt den Stempel: Migrationshintergrund.

Laut Bildungsbericht der Bundesregierung sind Kinder wie Mete die Verlierer des deutschen Bildungssystems. Nicht mal jeder Dritte gelangt aufs Gymnasium, bei gleicher Leistung erhalten Schüler mit Migrationshintergrund noch immer nachweislich schlechtere Noten. Gleichzeitig wächst ihr Anteil in der Bevölkerung, vor allem in Ballungsräumen.

Am staatlichen Gymnasium sah Metes Mutter Naciye die Chance ihres Sohnes schwinden, Abitur abzulegen. Seine Leistungen in Klasse fünf waren bestenfalls "befriedigend". Irgendetwas musste passieren, denn Mete sollte nicht zu den Verlierern gehören. Deshalb ergriff die Schneidermeisterin aus Sülldorf die Initiative und meldete ihn am ersten Privatgymnasium Hamburgs an, das aus einem türkischen Elternverein hervorgegangen ist. 50 weitere Schüler lernen dort mittlerweile in drei Klassen. Ihre Eltern, größtenteils türkischer Herkunft, zahlen dafür monatlich 270 Euro Schulgeld und lassen ihren Nachwuchs aus allen Teilen Hamburgs anreisen. Immer mehr türkische Eltern nehmen die Bildung ihrer Kinder selbst in die Hand und misstrauen dem staatlichen System. Knapp 70 Elternvereine bundesweit legen davon Zeugnis ab, in zahlreichen Städten gingen aus ihnen Privatschulen hervor. "Drei Elternvereine sind mir allein in Hamburg bekannt", sagt Harald Winkels, Geschäftsführer der türkischen Gemeinde.

Auch er stellt fest: "Das Bildungsbewusstsein der Türken in Deutschland steigt. 1961 kam die erste Generation nach Deutschland, zum Großteil anatolische Analphabeten, deren Muskelkraft gebraucht wurde. Mittlerweile ist Hirnschmalz gefragt - das führt zu einem Prozess des Umdenkens in der zweiten und dritten Generation." Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen.

Zwei Jahre besucht Mete nun schon das deutsch- und englischsprachige Privatgymnasium, seine Leistungen haben sich stabilisiert, die Familie ist zufrieden. 67 nicht staatliche Schulen sind der Hamburger Schulbehörde derzeit bekannt, das Alsterring-Gymnasium sei bislang das einzige mit einem von Migranten geprägten Trägerverein. "Unser Gymnasium steht aber allen offen", sagt dessen Leiter Karsten Heyde. So werde etwa der Religionsunterricht konfessionsübergreifend abgehalten.

Doch noch bleiben die Türken unter sich. Klassen mit maximal 22 Schülern, die Extrafächer Lese- und Sozialkompetenz sowie die Ganztagsbetreuung geben Eltern das Gefühl, ihre Kinder seien ganzheitlich in guten Händen und werden optimal auf die deutsche Gesellschaft vorbereitet.

"Private Schulen sind generell besser. Deshalb habe ich meine Söhne hier angemeldet", sagt beispielsweise Friseurmeister Ali Aslan aus Tonndorf. Turkan-Yasir und Emir-Han sind elf und 13, sprechen in der Schule ausschließlich Deutsch und bald auch noch Englisch. "Früher haben wir Türken für Häuser gespart, mittlerweile investiere ich lieber in die Bildung meiner Kinder", sagt ihr Vater und beschreibt nebenbei eine Entwicklung im Selbstverständnis: "Früher waren kaum Türken bei Elternabenden - sei es in der Schule oder in Sportvereinen. Heute sind sie immer da, weil viele merken, wie wertvoll Bildung ist."

Laut Verena Schröter, Schulleiterin der evangelischen Wichern-Schule, begreifen Eltern mit Migrationshintergrund Bildung immer mehr als "Eintrittskarte" für die deutsche Gesellschaft. Selbst die Konfession rückt dabei in den Hintergrund: "Muslime vertrauen uns ihre Kinder an, weil sie der Meinung sind, dass eine christliche Werteerziehung besser ist als gar keine. Ihnen wird klar, dass die deutsche Gesellschaft darauf fußt." Nur müsse unterschieden werden zwischen dem "diffusen Bildungsinteresse" aufstrebender, bildungsferner Familien und "konkreten Vorstellungen" ausländischer Akademiker. Gemein sei ihnen aber eine neue Bildungsorientiertheit. Bundesweit prägt sich das nicht nur bei den mehr als 500 000 Unternehmerfamilien mit Migrationshintergrund aus, die zwei Millionen Arbeitsplätze schaffen. "Auch in Hamburg, wo immerhin 18 Prozent aller Unternehmer ausländische Wurzeln haben, hat die Anzahl bildungsbewusster Türken zugenommen", sagt Karim Abaci, Geschäftsführer von Unternehmer ohne Grenzen.

Das stelle der Diplom-Volkswirt auch in Gesprächen mit der interkulturellen Elterninitiative Hamburg fest, der 25 Vereine angehören. "Eine bittere Erfahrung für Migranten ist, dass Integration nur über Bildung funktioniert." Deshalb würden viele versuchen, über Nachhilfe ihre Kinder auf den richtigen Weg zu bringen. "Ein weiterer Grund für den persönlichen Kampf um Bildung ist - auch wenn es nicht pauschalisiert werden darf -, dass staatliche Schulen nicht den besten Ruf genießen, weshalb sie die Bildung ihrer Kinder mit Eigeninitiative befördern."

Dazu gehört laut Harald Winkels und Karim Abaci auch, dass Migranten wann immer es geht, aus den Stadtteilen ziehen, die für einen hohen Anteil bildungsferner Bewohner bekannt sind. "Dabei geht es nicht darum, dass Türken vor der türkischen Unterschicht fliehen. Sie fliehen vor der Unterschicht im Allgemeinen", sagt Karim Abaci. Und sie ziehen dabei auch den "guten" staatlichen Schulen hinterher.

"Wir haben zunächst in Altona gewohnt, später sind wir nach Blankenese gezogen, und jetzt sind wir in Sülldorf heimisch geworden", sagt Naciye Sever, die mit ihrem Mann eine Schneiderei führt. Dennoch schickt sie ihren Sohn Mete lieber auf das weit entfernte Alsterring-Gymnasium in Barmbek. "In der fünften Klasse hatte ich lediglich einen Notenschnitt von drei bis vier. Jetzt stehe ich bei zwei", sagt der 13-Jährige. Seine Lieblingsfächer sind Englisch, Sport und Kunst. Sein Berufswunsch: Journalist. Wenn Mete gegen 16 Uhr das Privatgymnasium verlässt, muss er noch eine Stunde Fahrzeit einrechnen. Für seine Zukunft als Deutscher mit Migrationshintergrund.