Der Wandel vom Industriestandort zum Szene-Stadtteil gilt als Modell für viele andere Viertel. Festakt im Altonaer Rathaus.

Ottensen. Die eisernen Gleise führen mitten durch die Straßen hinein in das Werkstor der Zeisehallen. Auf ihren Schienen stehen im Sommer Biertische, Kinder spielen, hier stehen die Menschen für einen Besuch der Zeise-Kinos Schlange. Noch in den 1920er-Jahren wurden auf den Gleisen Schiffsschrauben der Firma Zeise transportiert. Heute ist der Ort ein Kulturzentrum, ein Treffpunkt mit öffentlicher Bücherhalle, Kindergarten, Läden, Kino und Restaurants. Die Maschinenfabrik ist längst Geschichte. Ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts. Eine Spur, die zurückführt in die Geschichte eines Stadtteils, der heute 700 Jahre alt wird. Ottensen feiert Geburtstag. Der öffentliche Festakt im Altonaer Rathaus beginnt um 18.30 Uhr.

Der Stadtteil zwischen dem Bahnhof Altona und der Fabrik ist heute eines der In-Viertel. 33.000 Menschen leben hier. Der Stadtteil gehört zu den beliebtesten Wohnvierteln in Hamburg. Bunt und gemütlich sind die verwinkelten Straßen, voller Leben, geprägt von Multikulti und Toleranz. Auf den Bürgersteigen stehen Stühle und Tische. Aus den Kneipen und Cafés klingt Musik aufs Trottoir. In der Fußgängerzone sitzen Punks in kleinen Gruppen, im Café nebenan haben es sich Mütter mit ihren Babys bequem gemacht. Sie trinken Latte macchiato, gönnen sich ein Stück frisch gebackenen Apfelkuchen. Die Punks öffnen sich eine Flasche Astra. Es ist friedlich. Jeder kann hier tun und lassen, was er möchte. Hier ist Multikulti gelungen.

Ottensen, das Arbeiter- und Industrieviertel von einst, ist heute das Zuhause von Künstlern und Freiberuflern, Studenten und jungen Familien, von Menschen verschiedener Nationalitäten, von Hafenarbeitern und Intellektuellen. Sie leben in sanierten Altbauwohnungen mit farbigen Hinterhöfen, in alten Arbeiterhäusern und modernen Neubauten.

Ottensen ist Stadt. Und es ist Dorf geblieben. Mit allem, was dazugehört, Marktplätzen, Landwirtschaft, Klatsch und Tratsch. "Man begegnet sich auf Augenhöhe hier", sagt Michael Wendt vom Stadtteilkulturzentrum "Motte". In Ottensen gebe es ein ausgeprägtes "Wir-Gefühl", einen außergewöhnlichen Zusammenhalt, der vielleicht geschichtlich bedingt ist. Denn Ottensen war eigentlich immer außen vor und damit in gewisser Weise für sich selbst verantwortlich.

Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Dorf Ottenhusen im Jahr 1310. "Damals wollte die Stadt Hamburg vertraglich festhalten, dass sich die Bebauung des Dorfs nicht weiter an die Stadt annähert", sagt Brigitte Abramowski. Abramowski kennt die Geschichte Ottensens wie keine Zweite. Vor knapp 30 Jahren gründete die heute 58-Jährige gemeinsam mit anderen die Geschichtswerkstatt. Dort ist die Historie des Stadtteils bis ins kleinste Detail archiviert. Hier erfährt der Besucher, dass der Stadtteil Ottensen erst seit 1937 zu Hamburg gehört. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Quartier zum florierenden Industriestandort. 1849 wurde hier die erste Glashütte eröffnet. Auch Tabak-, Metall- und Fisch-Unternehmer schätzten die Nähe der Elbe.

Viele Gebäude zeugen noch heute von der Industriezeit, zum Beispiel die Vierkantschornsteine am Hohenesch, in denen einst Fisch geräuchert wurde. Vor allem die Zigarrenmacher und Glasarbeiter litten aufgrund der schlechten Luft in ihren Werkräumen oft unter Tuberkulose. Da die Krankheit die Lunge wie die Motten zerfraß, erhielt Ottensen den Beinamen "Mottenburg". Ein Name, der noch bis in die 70er-Jahre hinein Bestand hatte.

Der Journalist Ben Witter schrieb 1972 im "Merian": "Spärlich schien in Mottenburg früher das Licht, in den engen Treppenhäusern und Wohnungen, und wohin es auch fiel, alles war eng, und durch einige Straßen führten Gleise in Fabriken, die Lokomotivführer kamen mit ihren Loks jeden Tag ein paar Mal an ihren Wohnungen vorbei. In Mottenburg zieht niemand aus, weil die Wohnung zu feucht ist, und die Dielenbretter immer knarren, und die Toiletten draußen sind... Die Kinder spielen in den Straßen, wo noch die Schienen im Pflaster liegen, Lokomotivführer. Vom Fliegen träumen sie selten. Und immer noch sitzen Frauen am Fenster. Was ist da schon zu sehen, und wer kommt schon?"

Ein trübes Bild von einem Stadtteil, in dem heute das Leben pulsiert. Auf den Straßen, die Geschichte erzählen. An der Bahrenfelder Straße zum Beispiel, in unmittelbarer Nähe der Zeisehallen. Oder in der "Fabrik" an der Barnerstraße, dem Kulturzentrum, in dem es Flohmärkte und Flirtpartys, Konzerte, Theateraufführungen und Vernissagen gibt. Orte, an denen es keine Altersgrenzen gibt und keine Unterschiede gemacht werden.

Zwischen Jung und Alt, deutsch und nicht-deutsch, zwischen Intellektuellen und Arbeitern. Sie alle fühlen sich hier wohl. "Hier leben alle gemeinsam", sagt Motte-Geschäftsführer Michael Wendt. "Jeder so, wie es ihm gefällt." Holger zum Beispiel, der jeden Abend sein Feierabendbier im Möllers an der Friedensallee trinkt. "Ich fühle mich hier wohl. Man kennt sich, grüßt sich. Obwohl sich die Struktur der Bewohner im Stadtteil reichlich gewandelt hat, hält die alte Gemeinschaft." Natürlich sei Ottensen gemütlicher gewesen, als die Hauptstraße noch keine Fußgängerzone war und die Straßenbahn noch über den Asphalt ratterte. Aber es gibt sie noch in Ottensen, wohin man blickt, die Gemütlichkeit von damals. Im Möllers kennt die Bedienung die Vorlieben ihrer Kundschaft. Holger zum Beispiel bekommt jedes Mal sofort sein Holsten, Astra mag er nicht.

Die alten Arbeiterkneipen, das Holsten auf der einen Seite, die modernen Bars, die "Happy Hours", die Caipirinhas auf der anderen. Jeder findet hier seinen Ort, an dem er sich wohlfühlt. Verdrängt wird niemand. Im Gegenteil, der Stadtteil ist offen für alle und jeden. Für Menschen wie Nina Groening, die mit ihren beiden Söhnen Michel, 4, und Leo, 2, vor einem Jahr von Paris nach Ottensen gezogen sind. Die kleine Familie ist einer von 3412 Haushalten mit Kindern im Stadtteil. Die 32-Jährige spricht mit ihren Söhnen Französisch. Sie sollen multikulturell aufwachsen. Da sind sie in Ottensen genau richtig.