Viele Bewohner des Stadtteils hoffen auf die Chancen der Veränderung - gleichzeitig wächst jedoch auch die Angst vor Vertreibung.

Wilhelmsburg. Ein Gespenst geht um in Wilhelmsburg . Etwa im Bahnhofsviertel, dessen schmutzige Wohnblock-Fassaden gleich beim Verlassen der S-Bahn-Station ins Auge stechen. Und auch etwas weiter nördlich bei den älteren Gebäuden an der Thielenstraße, wo sich eine ziemlich mitgenommene Hausfront auftut, nachdem sie offenbar von einem Rankgewächs befreit worden war. Junge Männer trinken ein Bier an einem Kiosk, Frauen mit Kopftüchern schieben Kinderwagen vor sich her, kaufen beim Obsthändler. Gleich gegenüber ragen Wohnkästen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren empor.

Doch auf den umzäunten freien Flächen daneben wird im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) das Neue Korallusviertel errichtet, mehrstöckige Gebäude in freundlichem Weiß für Familien und Senioren. Und weiter südlich entsteht ebenfalls für die Architektur-Schau bis 2013 die neue Mitte Wilhelmsburgs mit dem Neubau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Es ist dieser Kontrast aus teils vernachlässigten bestehenden Bauten und schicken IBA-Projekten, der das Gespenst heraufbeschwört. Es heißt Gentrifizierung.

Gentrifizierung bedeutet die Verdrängung der ansässigen Bevölkerung durch Zuzug von Menschen einer sozial bessergestellten Schicht. Der Austausch geht einher mit einer Aufwertung und Verteuerung. In Hamburg wird das Schlagwort gern gebraucht, um Veränderungen auf St. Pauli, in St. Georg, Ottensen oder dem Schanzenviertel zu beschreiben. "So wird es hier auch kommen, vielleicht nicht ganz so schlimm wie auf der Schanze. Und es wird länger dauern", sagt Christiane Tursi mit energischer Stimme.

Der blaue Pullover der 44 Jahre alten Politologin leuchtet hell über dem schmucklosen Tisch im Erdgeschoss des Hauses an der Thielenstraße 3a. Dort arbeitet sie für Verikom, einen gemeinnützigen Verein, der sich insbesondere um Migrantinnen kümmert, indem er ihnen etwa Deutschkurse bietet oder sie bei Rechtsfragen unterstützt. In einem Stadtteil, in dem 55 Prozent der Bevölkerung laut Statistikamt Nord einen Migrationshintergrund haben, laufen viele Klagen bei ihr auf. Nicht nur über Baumängel, auch über steigende Mieten.

"Es wird zu teuer hier, Leute ziehen deshalb weg. Das müssen wir wohl auch irgendwann", lamentiert ein eingemummter Rentner in gebrochenem Deutsch. Seinen Namen möchte er nicht nennen, nur dass er aus Mazedonien stammt und früher bei der Bahn gearbeitet hat, sagt er noch, als er mit seiner Frau auf einer Bank bei einem nahe gelegenen Spielplatz frische Luft schnappt. Dass "Leute mit wenig Geld in Wilhelmsburg keine Option mehr haben" und etwa nach Mümmelmannsberg ziehen, ist für Christiane Tursi ein "Indiz für einen Verdrängungsprozess".

"Wir nehmen diese Ängste ernst", sagt IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg. Der agile 62-Jährige trägt am Revers seines Anzugs das Zeichen der Bauausstellung mit der springenden Figur, die für den Sprung über die Elbe steht. Sinnbildlich hüpft sie auch noch über den schwimmenden bunten IBA-Container im Müggenburger Zollhafen hinweg, in dem Hellweg von seinem Schreibtisch auf die S-Bahn-Station Veddel blickt. "Wir wollen aufwerten ohne zu verdrängen", vertritt er die Strategie der Stadt. So hebt er heraus, dass 50 bis 70 Prozent der rund 1300 Wohnungen, die in Wilhelmsburg neu entstünden, öffentlich gefördert würden und später eine Mietpreisbindung hätten. Auch durch diese Sozialwohnungen sollen Ansässige in dem Stadtteil gehalten werden.

Einige davon werden im neuen Korallusviertel entstehen. "Die IBA ist ein Glücksfall für Wilhelmsburg, wie Weihnachten und Ostern zusammen, insbesondere für Migranten", sagt Umit Adigüzel. Der 42-Jährige mit der Baskenmütze und den energisch umherblickenden Augen genießt gerade einen Kaffee in einer kleinen Schänke an der Thielenstraße. Er betreibt nicht nur das Lokal, sondern ist als Bauunternehmer auch in das IBA-Projekt auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingebunden, als dessen Investor sein Bruder Necati fungiert. Die Familie, die aus der Osttürkei stammt, lebt seit den Siebzigerjahren in Wilhelmsburg. "Viele Migranten haben die Angst der Deutschen vor Veränderung übernommen", sagt Umit Adigüzel zu den Befürchtungen, von denen er natürlich auch gehört hat. "Dabei ist die IBA ein Grundstein für die Leute hier, um wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben."

"Es geht nicht um Gentrifizierung. Wilhelmsburg hat vielmehr einen Nachholbedarf", stellt IBA-Chef Hellweg klar. Es solle wieder an die normale Entwicklung in Hamburg angekoppelt werden. Hellweg, der schon bei der Internationalen Bauausstellung in Berlin Erfahrungen in behutsamer Stadterneuerung sammeln konnte, verhehlt freilich nicht, dass durch die IBA auch "Menschen aus der Mittelschicht" hinzugewonnen werden sollen. Gegenwärtig lebt jeder vierte Wilhelmsburger laut Statistikamt Nord von Hartz IV. Durch stärkere Durchmischung solle einer "Stigmatisierung des Stadtteils entgegengewirkt werden".

Das könnte ebenfalls im neuen Korallusviertel geschehen. Denn hinter einem neuen Wall, der die Bewohner vor dem Lärm der vorbeirauschenden ICE-Züge und S-Bahnen schützen wird, sollen dort neben Sozial- auch Eigentumswohnungen entstehen. Nazan Tasci lebt etwas östlich davon in einer Eigentumswohnung und berichtet, dass dort die Bevölkerungsstruktur anders ist als in den Vierteln mit Mietwohnungen. Es gebe dort keine Hartz-IV-Empfänger, und die Bildung sei besser, "auch die der Migranten", sagt die 40 Jahre alte Blondine in muttersprachlichem Deutsch. Obwohl insbesondere in den vergangenen Jahren "alles teurer" geworden sei, erkennt sie momentan keinen Verdrängungsprozess. "Das könnte aber durch Studentenwohnungen kommen", fügt sie nach einigem Überlegen an. Nicht ohne Grund, wie ein Blick in das zwei Kilometer Luftlinie entfernte Reiherstiegviertel zeigen mag.

"Clever sparen - jetzt ab in den Süden". Mit diesem Slogan wirbt - nicht im Rahmen der IBA - die Saga/GWG auf ihrer Website für Studentenwohnungen, die sie dort anbietet. Etwa hinter renovierten Jugendstilfassaden an der Mannesallee können angehende Akademiker dank eines Programms der Stadt Hamburg zu Konditionen Obdach finden, die normalerweise Studentenwohnheime fordern: nicht mehr als 178 Euro pro Monat, keine Courtage, keine Kaution. Kein Wunder, dass das Angebot gut ankommt, wie Saga/GWG-Sprecher Mario Spitzmüller berichtet.

"Mit Studenten kommt eine neue Klientel in den Stadtteil, die eine Preisspirale in Gang setzt", hat Andreas Riedel festgestellt. Riedel ist Analyst beim unabhängigen Forschungsinstitut F+B, das auf den Wohn- und Immobilienmarkt spezialisiert ist. Allerdings werde dieser Effekt auch dadurch hervorgerufen, dass Studenten oft nicht gerade die billigsten Wohnungen mieteten. Das trifft nun zwar in diesem Falle nicht zu, aber Riedel weiß auch, dass Studenten ein Viertel in der Regel "kulturell aufwerten". F+B verzeichnet denn auch bei Neuvermietungen in Wilhelmsburg seit 2005 einen Anstieg der Nettokaltmieten um 20 Prozent auf durchschnittlich 7,26 Euro je Quadratmeter.

In der Tat, es tut sich viel im Umfeld der Studentenwohnungen. Auffallend viele Altbaufassaden entlang der Veringstraße im nördlichen Reiherstiegviertel sind renoviert worden. Ein weiteres Café samt Cocktailbar wird dort eröffnet, einige Geschäfte modernisieren ihre Räume. Auch die alteingesessene Buchhandlung Lüdemann an der Fährstraße, die keine Konkurrenz in näherer Umgebung hat, hellte ihre Räume mit neuer Beleuchtung etwas auf, erzählt Gotthold Eichkorn, der dort beschäftigt ist. Dass neue Cafés aufmachen, sieht der 62-Jährige Vollbartträger "deutlich positiv". Eine Änderung der Bevölkerungsstruktur nimmt er noch nicht wahr. Allerdings denkt er, dass die IBA "einen Schub für einen Stadtteil bedeuten kann, in dem viele gar keine Buchhandlung erwarten", sagt Eichkorn. "Ein Wandel kündigt sich an, die Perspektive ist da."

Wenige Schritte weiter sitzen in einer türkischen Teestube Männer an einfachen Tischen und spielen Karten. Einer von ihnen ist Süleyman Ordu. Der 48-jährige Spediteur sagt in gebrochenem Deutsch, viele Leute würden etwa nach Harburg wegziehen - auch weil das Einkaufen teurer werde. Es gebe einen Wandlungsprozess, aber er habe keine Angst. Sorgho Yacouba Armel und Carmen Hammeley haben sehen dem Wandel gelassen entgegen: "Wo Neues kommt, muss Altes weichen."

Es wäre nicht die erste Strukturveränderung in Wilhelmsburg, wie IBA-Chef Hellweg meint. Demnach ist der einst (klein)bürgerliche Stadtteil erst in den Jahren nach der Sturmflut von 1962, die dort mehr als 200 Todesopfer forderte, zu dem "Problemquartier" geworden. Entscheidend sei 1965 der Beschluss des Senats gewesen, westlich der Bahntrasse keinen Wohnraum mehr zu fördern und die dort liegenden Teile von Wilhelmsburg für gewerbliche und industrielle Nutzung vorzuhalten. Das habe Bewohner und Grundeigentümer verunsichert und zu einem Exodus geführt. In die leeren, zunehmend heruntergekommenen Wohnungen seien dann überwiegend Bewohner mit Migrationshintergrund gezogen.

Von diesem Strukturwandel kündet im südlicheren Reiherstiegviertel das sogenannte Weltquartier, lang gestreckte Backsteinblocks mit Giebeldächern, die um 1930 an der Veringstraße und der Weimarer Straße erbaut wurden. An warmen Abenden sitzen Männer mit orientalischem Teint an kleinen Tischen vor den roten Gemäuern, auch einige Farbige sind zu sehen. Die Bewohner stammen laut IBA-Website aus 30 Ländern, daher auch der Name der Siedlung. Im Rahmen der Bauausstellung modernisiert sie der städtische Immobilienkonzern Saga/GWG für 78 Millionen Euro inklusive Fördergeldern. Im August wurde dort auch ein Pavillon eröffnet, der den Bewohnern für Feste und Veranstaltungen zur Verfügung stehen wird. Bis November wird dort noch eine Schau über die Geschichte dieser Siedlung gezeigt, an der auch Zeynep Arduc mitgewirkt hat. "Es gibt hier Ängste, verdrängt zu werden, aber die meisten sehen die Aufwertung positiv", sagt die 23-Jährige, die ein helles Kopftuch trägt. Arduc, die einen türkischen Hintergrund hat, ist in Wilhelmsburg aufgewachsen und macht nun ihren Master in Stadtplanung an der HafenCity-Universität.

"Es wird Veränderungen geben", meint ihr Chef Rolf Kellner von "über NormalNull", der die Schau konzipiert hat. Eine "große Dynamik" bemerkt der 40-jährige Diplom-Ingenieur vor allem im nördlichen Reiherstiegviertel.

Dort schließt auch IBA-Geschäftsführer Hellweg längerfristig "negative Aufwertungseffekte" und "stärkere Umstrukturierungsprozesse" nicht aus - aber erst, wenn da die U-4-Bahn-Strecke über die HafenCity nach Süden hin verlängert werden sollte. Für eine umfassende Gentrifizierung ist nach Hellwegs Ansicht Wilhelmsburg zu groß - "zehnmal so groß wie die Schanze", hebt er seine Stimme. "Wenn es so kommt, wie Herr Hellweg sagt, soll uns das recht sein", meint Christiane Tursi. Ihre Skepsis, ob es so kommt, bleibt spürbar.