Eine Radtour auf Europas größter Flussinsel, die über Gartenschau und Bauausstellung hinaus mehr Lebensqualität erhalten soll.

Hamburg. Radfahrer sollten sich nicht von dem grandiosen Blick einlullen lassen. Denn wer einen Moment zu lange auf das Hamburg-Panorama mit Elbphilharmonie , Michel und Landungsbrücken starrt, macht Bekanntschaft mit den Gleisen. Im südlichen Hafengebiet lauern die unnatürlichen Feinde eines jeden Radfahrers im Kopfsteinpflaster ebenso wie im Asphaltband. Eisern, glatt und immer bereit, ein Vorderrad in die Mangel zu nehmen.

"Deshalb überqueren Sie die Schienen bitte im 90-Grad-Winkel. Dann passiert Ihnen nichts", mahnt Carsten Ruthe mit fester Stimme. Auf seinem schwarzen Fahrrad strampelt er voran, navigiert eine kleine Gruppe quer durch den Hafen, vorbei am dröhnenden Lkw-Verkehr - mit ungewöhnlichen Perspektiven auf Hamburg. Ziel ist die Elbinsel Wilhelmsburg.

Der Stadtteil, dem nachgesagt wird, er werde die nächste Schanze, den aber allen freundlichen Stadtentwicklungsprognosen zum Trotz bisher viele Hamburger links liegen lassen. Der Stadtteil, der im Jahr 2013 nicht nur die Internationale Bauausstellung (IBA), sondern auch die Internationale Gartenschau (igs) beherbergen wird.

Zu den Schauplätzen der igs geht es heute während einer Entdeckertour. Startpunkt ist das Hamburger Rathaus, es geht vorbei am backsteinernen Herrengraben durch das quirlige Portugiesenviertel und dann durch den Alten Elbtunnel ans südliche Elbufer. Reizvolle Blickfänge, zu denen Stadtführer Carsten Ruthe informative Geschichten einfallen. Aber sie spielen nur Nebenrollen, sind schmückende Beiwerke für das unbekannte Wilhelmsburg.

Erster Stopp: Spreehafen . "Hier brach 1962 der Deich, als die große Sturmflut weite Teile Wilhelmsburgs überschwemmte", erzählt Ruthe. Infolgedessen sei der Deich zwar erhöht worden, bis heute markiere er aber einen Wendepunkt in Hamburgs Siedlungsgeschichte.

"Nach der Flut galt Wilhelmsburg als Gefahrengebiet, darum wurde unmittelbar danach mit dem Hochhausbau in Kirchdorf Süd begonnen. Das eigentliche Wilhelmsburger Zentrum, das Reiherstiegviertel, wurde deswegen immer unattraktiver", erklärt Ruthe weiter. Zwischen dem historischen Stadtteilkern und Kirchdorf Süd sollen in den kommenden drei Jahren sieben Themenparks für die igs entstehen: Wasser, Natur, Kultur, Religionen, Bewegung, Kontinente und Häfen werden gleichermaßen inszeniert. "Denn wir wollen nicht nur eine Blümchenschau sein", sagt Projektkoordinatorin Dörthe Grimm. Der überstrapazierte Begriff Nachhaltigkeit macht immer wieder die Runde - ein Kletterpark, ein Sportzentrum und nicht zuletzt der Neubau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) sollen Wilhelmsburg auch über IBA und igs hinaus mehr Lebensqualität verleihen.

Für wen der Stadtteil schon jetzt anziehend ist, erfährt die radelnde Gruppe spätestens an der Veringstraße. Die Altbauten, ab 1875 von den Gebrüdern Vering im Zuge der Industrialisierung für Hafenarbeiter errichtet, bieten Studenten bezahlbare Wohnungen in einem agilen Umfeld. 34 Prozent Ausländeranteil mögen für gut situierte Familien noch keinen Reiz darstellen - für Studierende ist der Multikulti-Stadtteil ein Gewinn. Zumal die Hamburger Innenstadt nur vier S-Bahn-Stationen und eine Elbüberquerung entfernt liegt.

"Der Stadtteil kommt", sagt Carsten Ruthe. "Er wird der nächste Schauplatz der Gentrifizierung." Soll heißen, ein sozialer Umstrukturierungsprozess wird stattfinden, wohlhabende Menschen werden das Viertel entdecken - und aufwerten. Die alte Klientel wird sich mit der neuen durchmischen. "Also investieren Sie jetzt!", sagt Ruthe. "Noch sind die Preise in Wilhelmsburg erschwinglich."

Warum man das tun sollte, erschließt sich auch bei der Fahrt entlang des Veringkanals. Ein Radweg am Wasser offenbart den Charme der Gegend. Hier prallen Industrieromantik und grüner Erholungswert aufeinander.

So kommen am linken Ufer der künstlichen Wasserstraße Stahlbauten, Tonnen und Alu-Gerüste einer Schmierölfabrik in den Blick. Auf der rechten Seite erstreckt sich hingegen ein Grünstreifen mit Bänken, Entenfamilien und Blütenpracht. Dazwischen liegen Hausboote. "Das Herz der Insel", wie Carsten Ruthe sagt.

Am Pulsschlag der S-Bahn wird sich dagegen ein Großteil der Gartenschau abspielen. Getreu der Losung "In 80 Gärten um die Welt" soll die Schau eine botanische Reise über den Erdball werden. Wo momentan Bagger und Sandlastwagen ihren Dienst versehen, betten sich spätestens 2013 die Themenparks in einen Baumbestand aus 20 000 Pflanzen. Die Vision, auf 100 Hektar eine grüne Oase zu entdecken, gibt es bislang zwar nur als Computersimulation. An den Stationen Mahlbusen, Kükenbrack und Kuckucksteich zeigt Wilhelmsburg aber bereits jetzt seine naturverbundene Seite.

Heftige Kritik von Naturschützern und Wilhelmsburgern rief unterdessen das Fällen von 1500 Bäumen hervor. Sie mussten Platz für Neubauten und Landschaftsmodellierung machen. Für Kritiker mutete es geradezu grotesk an, dass Bäume dort fallen mussten, wo die Natur im Vordergrund stehen soll. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die neue Umweltbehörde auf einem Biotop errichtet wird.

Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Als die igs-Verantwortlichen jüngst ein Ausgleichs- und Naturschutzkonzept vorlegten, erklärte selbst der Nabu-Vorsitzende Alexander Porschke: "Die Gartenschau ist auf einem guten Weg." Sie sei aber noch nicht am Ziel.

Laut Ausgleichskonzept ist geplant, im Wilhelmsburger Osten 22 Hektar Feuchtgrünland als Ersatz anzulegen - ein Gewässermosaik für den Wiesenvogel- und Amphibienschutz. Auch das igs-Gelände selbst soll nach Fertigstellung diverse ökologisch wichtige Ruhe- und Schutzzonen für Flora und Fauna bieten.

Während der Radtour ist die Ahnung davon größer als die Realität. Von den zur Verfügung stehenden 120 Millionen Euro wurden bislang wenig in Bausubstanz umgesetzt. Alles wirkt spannend, aber auch unfertig. Projektkoordinatorin Dörthe Grimm meint, das werde sich schnell ändern. Die Ausschreibungen für viele Projekte laufen oder stehen kurz vor dem Abschluss.

Einen reizvollen Blick auf die größte Flussinsel Europas bildet die knapp dreistündige Radrundreise dennoch. Vor allem, weil sie an einem bereits fertiggestellten igs-Projekt endet: eine aufwendig sanierte Kapelle inmitten des Mengeparks. Im Umfeld des säkularisierten Gotteshauses sollen die fünf Weltreligionen im Jahr 2013 zusammenkommen.

Es ist aber auch ein guter Ort, um die Radlergruppe zur Ruhe kommen zu lassen. Bei einem Picknick unter uralten Bäumen endet eine informative, ungewöhnliche und erhellende Reise durch den (noch) verschmähten Stadtteil Wilhelmsburg.