Was passiert, wenn Kindern auf dem Dom alles erlaubt ist? Sie kehren Erziehungsnormen den Rücken. Ein Selbstversuch mit Sohn.

Hamburg. Kurz hinter der Wildwasserbahn kippt die Stimmung. Eine knappe Diskussion darüber, ob nach dem Zuckerguss-Berliner und dem ersten Lolli ein weiterer Lolli sein muss, lässt die Heiterkeit aus dem kleinen Menschen vor mir weichen. Der Disput endet mit einem Nein. Und weil Kinder mit dem Wort nein grundsätzlich Probleme haben, kullern die ersten Tränen. Das Geschrei ist: groß.

Der emotionale Ausbruch meines Sohnes auf dem Dom ist hausgemacht. Entgegen den sonstigen Erziehungsgewohnheiten - ich halte mich für einen moderat diktatorischen Vater - gab es bis zu diesem Zeitpunkt keine Grenzen für ihn. Ein Nein existierte nicht. Umso größer ist nun die Enttäuschung über das erste Verbot des Tages.

Im Alltag sprechen konventionell erziehende Eltern dauernd Verbote aus oder treffen regulierende Abmachungen. Mit Enttäuschungen zurechtzukommen gehört bei konservativer Auslegung zur Eltern-Kind-Beziehung. Aber wohin geht die Reise, wenn das Kind in einer pädagogisch anspruchsvollen Umgebung wie dem Dom frei entscheiden darf? Ohne Verbote, ohne Abmachungen. Und weil die Spätfolgen für meinen Sohn überschaubar scheinen, lasse ich es darauf ankommen.

Erwartungsgemäß wirken die Geschäfte wie Magnete auf Béla. Mit den Worten "Papa, guck mal da" steuert er das erste Karussell nebst Zuckerwattestand an. Das Gurkenfass lässt er links liegen. Natürlich. Glücklicherweise ignoriert er auch die halsbrecherisch wirkenden Fahrgeschäfte, ein wenig Restrespekt scheint trotz neu gewonnener Freiheit geblieben.

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Mit fortschreitender Dauer seiner Alleinherrschaft nimmt das ungezügelte Bedürfnis nach Spaß und Süßem allerdings anarchistische Formen an. Zaghafter Widerspruch wird immer weniger wahrgenommen. Was der Vernunftmensch erzählt, der bis vor wenigen Minuten sein Papa war, ist mittlerweile vollkommen Banane. Kinder lernen schnell. Und dass heute alles anders ist, hat mein Kleiner zügig kapiert.

Das Weglassen pädagogischer Normen beschert ihm unlimitierten Spaß, während ich auf einen formidablen Nervenzusammenbruch hinarbeite. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat mal formuliert: Eltern müssen wie Leuchttürme für ihre Kinder sein. Hier, zwischen Dauergebimmel und bunten Verlockungen, ähnele ich einem jämmerlichen Teelicht.

Denn wenn ein Zweieinhalbjähriger Häuptling spielt, herrscht Chaos. Ließ sich der Forscherdrang zu Beginn noch respektabel steuern, ist nach der Hälfte des Weges keine Einflussnahme mehr möglich. Eine Stunde nach Reisebeginn muss es alles sein. Und zwar alles auf einmal. Die Beute einer 200 Meter langen Teststrecke liest sich dann auch so: ein Berliner an der Kuchenbäckerei, ein Lebkuchenherz, ein Lolli und ein Plastikmotorrad als Gewinn beim Plastikentenangeln. Wo vorher ein passabel erzogener Junge war, ist nun ein gieriges Minimonster, dessen hedonistische Maßlosigkeit ungezügelt hervorbricht. Gleichzeitig fühlt sich die väterliche Schrecklähmung ein bisschen so an, als müsse ein Bundeswehroffizier mit antiautoritären Mitteln versuchen, einen Waldkindergarten in Schach zu halten.

Damit nicht der Eindruck entsteht, dieser Nachmittag sei unmenschliche Folter gewesen: Zwischendurch ist es sehr angenehm, die Frage "Kann ich Karussell fahren?" mit einem gönnerhaften "Ja, klar" zu beantworten. Aber spätestens nach der siebten Fahrt im Feuerwehrauto - und es muss immer das Feuerwehrauto sein - machen sich Zweifel breit: Ist dieser Selbstversuch wirklich notwendig? Und: Wie soll ich das eigentlich alles bezahlen?

Davon abgesehen birgt der Kontrollverlust vor allem schöne Momente. Besonders in der ersten Hälfte unseres Rundganges, als die erzieherischen Zügel noch besonders lose auf dem Asphalt des Heiligengeistfeldes schleifen. Dem Nachwuchs beim Entenangeln behilflich zu sein, ist, nun ja, einfach toll. Banale Fragen wie "Angelst du die gelbe Ente für mich?" zaubern mir ein debiles Grinsen ins Gesicht. Die teambildende Maßnahme zeigt Wirkung. Nicht minder großartig ist, mit dem Mini-Autoscooter zu fahren ("Nicht so schnell, Papiiiii!") oder die Begeisterung für das Auf und Ab in der Hubschraubergondel zu teilen. Zumal man nicht allein ist. Die skurrilste Randnotiz ist nämlich, dass es kaum einen entzückenderen Anblick gibt als von Glückseligkeit befallene Väter am Rand eines Kinderkarussells.

Zu der Erkenntnis "Schluss mit lustig" kommen allerdings temporäre Rabenväter wie ich, wenn sie das monumentale Vermögen eines Zweieinhalbjährigen unterschätzen, wider jeglicher Vernunft zu handeln. Das leuchtet spätestens ein, wenn die Durchsage "Bitte auf das Kind achten!" den eigenen, übermütig gewordenen Nachwuchs betrifft. Da hilft auch die Erklärung "Ich wollte doch nur ins Feuerwehrauto klettern" nicht. Denn erstens macht man das nicht ohne Papa und zweitens nicht während der Fahrt. Es ist der Moment, den Tatendrang mit diktatorischen Mitteln zu bremsen, um den Tag nicht in der Notaufnahme des UKE zu beenden.

Mit der üblichen Rollenverteilung gewinnt die Vater-Kind-Beziehung alte Vertrautheit zurück. Auf persönlichen Wunsch hin ("Papa, kann ich auf den Arm?") trage ich Béla an der Geisterbahn vorbei. Seine Furcht nutze ich schamlos für die eigene Erbauung aus. Denn wenn einen das gesamte Umfeld kopfschüttelnd als inkompetenten Vater entlarvt hat und der einzige Lieferant für etwas Zuspruch das eigene Kind ist, wird man zum Liebesschmarotzer.

Wie schnell sich aber auch dieses Blatt wenden kann, erlebe ich kurz vor dem Ausgang. Finale furioso an der Losbude! Der noch immer in Gebrauch befindliche Lolli fällt in den Dreck. Und entgegen der Meinung meines Sohnes halte ich das Schleckstück spätestens jetzt für ungenießbar. Es landet im Mülleimer. Die sich daraufhin zur Schippe formende Unterlippe kenne ich bereits, das nun folgende Drama "Anbetung einer Mülltonne" noch nicht. Béla klammert sich unter theatralischem Geschluchze an den Plastikquader und wiederholt die Worte: "Meeeein Loooollliiiiii!" Krisenerprobt erkläre ich meinem Sohn die Sachlage und hoffe auf schnelle Einsicht. Aber die Frau in der Losbude hat eine bessere Idee: Sie schenkt ihm einen neuen Lolli, was zwar nett ist, diesem pädagogisch verkorksten Tag aber noch die Krone aufsetzt.

Nach zweieinhalb Stunden geht es nach Hause. Auf dem Rückweg plaudert Béla Dampf, schwärmt von den Versuchungen des Doms, von "der Tante mit dem Lolli", von seinem neuen Plastikmotorrad und dem Lebkuchenherz. Zuhause wird das zuckerverklebte Kind einer Grundreinigung zugeführt. Hobby-Napoleon schläft ohne Murren ein.

Ich glaube, es war ein guter Tag für ihn. Und nächste Woche gibt's nur Obst.