Rauer Ton und fast 14 Stunden in der Kälte arbeiten: Was Abendblatt-Reporter Benjamin Cordes in einer Schaustellerfamilie erlebte.

Als ich um 9 Uhr das Heiligengeistfeld betrete, scheint der Dom noch zu schlafen. Keine Menschenseele weit und breit, die Rolläden sind noch unten. Keine Musik, kein Duft von gebrannten Mandeln, kein Gekreische. Nur eine kleine Maus schnappt sich den letzten Rest eines Fischbrötchens vom Vortag.

Ich bin mit Jens Vorlop verabredet. Damit ich einen Einblick bekomme, was die Schausteller auf dem Dom leisten müssen, lässt er mich einen Tag bei sich mitarbeiten. Als ich ihn begrüße und seine kräftige Hand meine fast zerdrückt, merke ich: Dieser Mann kann anpacken. Und das muss er auch. Denn Vorlop betreibt mit seiner Tochter nicht nur zwei Fahrgeschäfte auf dem Dom, sondern zur Weihnachtszeit auch noch zwei Stände auf den Weihnachtsmärkten an der Spitalerstraße und am Wandsbeker Markt. Das bedeutet viel Arbeit, den ganzen Tag, ohne freie Wochenenden, bis Neujahr. Sofort geht es zum "Shaker", dem Fahrgeschäft seiner Tochter. Vorlop drückt mir eine Liste mit 18 Punkten zum Abarbeiten in die Hand. "Prüfung aller Montageverbindungen auf richtigen Sitz", "Kontrolle der Hydraulikflüssigkeit" oder "Reinigung von Gondeln, Platte und Rundlauf" stehen auf dem Programm. Ich mache mich an die Arbeit und genieße dabei offenbar noch Laienschutz: Die anderen Mitarbeiter werden von Vorlop mit deutlich strengerem Ton angewiesen. Jeder Handgriff muss sitzen. "Als Schausteller hat man immer zwei grundsätzliche Probleme: Wir haben keine Zeit und keinen Platz", sagt der Chef.

Nachdem die Arbeit an dem Karussell getan ist, geht es in die Spitalerstraße. Dort baut Vorlops Neffe gerade die Schmalzkuchenbude auf. "Mit einem zweiten Standbein im Weihnachtsgeschäft machen sich immer mehr Schausteller von den sinkenden Absätzen auf den Volksfesten unabhängig", sagt Vorlop.

Schausteller zu sein, das bedeutet Arbeit - und zwar fast das ganze Jahr. Zeit für einen längeren Urlaub bleibt nur an den freien Tagen im Januar. Danach geht der stramme Rhythmus weiter: Jede Woche ist Vorlop dann in einer anderen Stadt, auf einem anderen Jahrmarkt. Gegen Jahresende wird bereits die Tournee für das kommende Jahr geplant. Nach Hause kommt der Schausteller nur, um seine Post abzuholen, "für Romantik oder Hobbys bleibt keine Zeit", erfahre ich. Zum Luftholen bleiben dem Workaholic nur die Autofahrten. Hier kommt er etwas zur Ruhe, seine Stimme wird leiser und nachdenklich. Die Wirtschaftskrise macht dem Schausteller zu schaffen. Zwar würden die Besucher immer noch auf die Volksfeste strömen, aber weniger Geld ausgeben. "Es gibt auch Tage, an denen bleibt kein Euro übrig."

Auf dem Dom sind wir jetzt fertig mit den Vorbereitungen. Es bleibt Zeit für ein Mittagessen im warmen Wohnwagen. Es sind gemeinsame Mahlzeiten wie diese, bei denen die Dom-Familie ihre Tage durchplant und die Aufgaben verteilt. "Ich gehe mich mal hübsch anziehen, rasiere mich, und dann kann es losgehen", sagt Jens Vorlop nach dem Essen.

War ich mit meiner Rolle bislang ganz zufrieden, beschleichen mich nun Zweifel: Mein Dreitagebart ist heute eher ein Siebentagebart. Als ich morgens vor der Wahl, Klinge oder Bartwuchs, stand, war mir offensichtlich nicht bewusst, dass ich ja auch Fahrgästen gegenübertreten würde. Hoffentlich leidet das Geschäft nicht unter meinem zugewachsenen Gesicht, denke ich und beschließe, selbstbewusst meine Aufgaben anzugehen.

Pünktlich zum Geschäftsbeginn um 15 Uhr bricht die Sonne aus den Wolken hervor, die Rollläden werden hochgezogen, geschäftiges Treiben macht sich breit. Meine erste Aufgabe während des laufenden Betriebs ist am "Atlantis Rafting", der neuen Wildwasser-Anlage von Jens Vorlop. Im Vergleich zur ölverschmierten Arbeit an den Montageverbindungen des "Shakers" ist es hier schon deutlich angenehmer. Während des automatischen Durchlaufs muss ich die Sitze trocken wischen und darf den Gästen beim Aussteigen helfen, damit sie nicht ins Becken mit 28 000 Liter Wasser fallen.

Auch der "Shaker" hat seinen Betrieb aufgenommen. Schon von Weitem hört man es an der lauten Musik und der Stimme von Vorlops Tochter Tina. "Auf geeeeeeht's - und los!", feuert sie ihre Fahrgäste an. Mit dem Fuß steuert sie über ein Pedal den Hall ihrer Stimme, mit den Reglern hat sie Geschwindigkeit, Licht und Musik unter Kontrolle. Die Mädchen kreischen. "Man muss lernen, herauszuhören, ob jemand aus Freude oder aus Angst schreit", erklärt mir die 26-Jährige augenzwinkernd.

Ich mache mich an die Arbeit, verkaufe Fahrchips und lege den Gästen die Sicherheitsbügel an. Danach setze ich mich wieder zu Tina in die warme Kabine. In ihren Job habe sie erst hereinwachsen müssen. Sie betreibt diesen Beruf nun schon in der sechsten Generation. Die siebte heißt Jason und ist zwei Jahre alt - ihr Sohn. Er besucht den Dom-Kindergarten für Schaustellerkinder. "Als Kind hab ich schon hier gesessen und Kommandos gegeben, als Teenager ist einem das dann etwas peinlich, bevor man endgültig wieder in die Aufgabe findet", sagt sie. Mittlerweile "fährt" die 26-Jährige das Karussell seit acht Jahren. Wenn die Fahrgäste lächelnd nach Hause gehen, freut sie sich. "Dann weiß ich, ich habe es richtig gemacht." Richtig war auch meine Entscheidung, mir das bunte Treiben einmal aus der Perspektive der Schausteller anzusehen. Teilweise frierend und mit dreckigen Händen geht mein außergewöhnlicher Tag zu Ende. In der Gewissheit, dass hinter den bunten Lichtern und dem leckeren Duft auf dem Dom harte Arbeit von Menschen steckt, die ständig auf Reisen sind und kaum Freizeit haben: Erst um 23 Uhr ist Feierabend, die Lichter gehen aus. Der Dom geht wieder schlafen.