Klettern im Kirchturm, das ist neu. Am kommenden Sonntag wird der innerkirchliche Parcours mit einem Festgottesdienst eingeweiht.

Hamburg. Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Kirchturm. Mit Glocken und hohen geraden Wänden. Ein Ort zum Singen und Beten, aber meistens einfach nur leer. Nicht in der Bahrenfelder Paul-Gerhardt-Kirche. Ein halbes Dutzend Jugendliche steht an diesem Nachmittag in dem kleinen quadratischen Raum. Sami hat einen Sicherheitsgurt angelegt und einen Helm auf dem Kopf. "Ich nehme die rote Tour", sagt der 16-Jährige und beginnt den Aufstieg an den Kirchenwänden. "Verlass dich auf deine Füße", ruft Lehrer Marcus Wienberg. Unten stehen Isabelle, Aylin und die anderen aus der 10b und sichern ihn mit einem dicken Seil. Die erste Etappe ist bei 6,50 Meter. Kurze Pause. Dann hangelt sich Sami langsam und konzentriert weiter hoch - bis auf 13 Meter.

Klettern im Kirchturm, das ist neu. Am kommenden Sonntag wird der innerkirchliche Parcours mit einem Festgottesdienst eingeweiht. "Damit gehören wir zu den ersten Kirchen in Deutschland", sagt Pastorin Barbara Schiffer stolz. Das ungewöhnliche Projekt, eine Kooperation mit der benachbarten Max-Brauer-Schule, gehört zu einer Offensive, die die Gemeinde gegen die drohende Kirchenschließung setzt.

+++ Pfarrer Pricker - bei ihm beteten Beckmann und Bator +++

Seit dem Bau der Kirche 1956/57 ist die Zahl der Gemeindeglieder von 10 000 auf inzwischen gerade mal 3200 gesunken. "Tendenz fallend", so Schiffer. Das Geld reichte vorn und hinten nicht. "Wir mussten uns entscheiden, entweder wir geben auf, oder wir machen etwas Neues." Das war 2008. Inzwischen gibt es einen Masterplan. Motto: Eine Kirche rettet sich selbst. "Als erste Aktion haben wir den Zaun um unser Gelände abgerissen und Bänke aufgestellt", sagt die Theologin. Ein symbolträchtiger Schritt sei das gewesen für die Öffnung in den Stadtteil.

Inzwischen ist der - nicht kirchliche - Kinderladen Wilde 13 in ungenutzte Räume des Gemeindehauses eingezogen. Mit den Mieteinnahmen werden Sanierungsarbeiten an der Stahl-Beton-Skelettkonstruktion finanziert. Auch beim Personal spart die Gemeinde, eine Erzieherin etwa wechselte in die Kita. Ein weiterer Punkt ist die enge Zusammenarbeit mit der Max-Brauer-Schule. So initiierte Annika Woydack, zweite Pastorin der Gemeinde und derzeit in Elternzeit, eine "Zeit der Stille", in der sich Schüler zweimal in der Woche in der Kirche treffen und mit Lehrern und Pastoren reden oder auch einfach nur ein bisschen Ruhe genießen können.

Im Kirchturm ist Sami wieder zurück auf dem Boden. "Mich fasziniert die Höhe", sagt der Zehntklässler. An einer zweiten Wand ist jetzt Merve auf dem Weg nach oben, rechts hängt Finn in den Seilen. In Zukunft wird der Sportunterricht häufiger in der Kirche stattfinden. Zunächst hatten die Partner eine deutlich kleinere Wand im Gemeindehaus geplant, daraus entstand dann die Idee für die professionelle Turmanlage. Das Investitionsvolumen von mehr als 25 000 Euro wurde mit Spenden finanziert. Die Max-Brauer-Schule beteiligte sich mit 5000 Euro. "Für die Schüler ist das eine tolle Sache, weil sie hier ihre Grenzen, aber auch Vertrauen erleben können", sagt Pädagoge Wienberg.

Kritik am Kletterparcours im Kirchturm gibt es bislang nicht. "Das wird vielleicht noch kommen", sagt Pastorin Schiffer. "Aber wir sind überzeugt von unserem Konzept." Im vergangenen Jahr bekam die Paul-Gerhardt-Kirche gemeinsam mit dem Hamburger Architekturbüro Garbe einen mit 25 000 Euro dotierten Preis der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland für das innovative Modell der Nutzungserweiterung von Kirchengebäuden.

Schiffer sieht ihre Kirche "auf einem guten Weg". Es werde zwar auch weiter Austritte geben, aber das Image der Kirche habe sich positiv verändert. Das lässt sich auch an handfesten Fakten ablesen. So hat sich etwa die Zahl der Taufen deutlich erhöht. Als nächste Projekte sind eine Jugendlounge für Jugendliche aus dem Stadtteil und Konfirmanden geplant, das Gemeindebüro soll näher an die Straße ziehen und auf dem Kirchvorplatz ein kleines Bistro entstehen. "Wir überlegen gerade, wie sich das finanzieren lässt."

Dabei könnte der Kletterturm eine zusätzliche Einnahmequelle werden. "Wir sind schon daran interessiert, damit Geld zu verdienen", sagt Barbara Schiffer. Auch über einen Ausbau weiter nach oben wird nachgedacht. Noch fehlt allerdings ein konkreter Plan für eine Öffnung auch außerhalb der Schulgruppen. Sieht die Pastorin ihre Kirche als Trendsetter für ein ganz neues Geschäftsmodell? "Es muss passen", sagt sie. "Bei uns ist das so. Insofern sind wir ein Vorbild." Das bedeute aber nicht, dass künftig alle Kirchtürme Klettertürme werden sollten. "Gott bewahre!"