Soll sie Ortsgruppen bilden und auch Lokalpolitik machen? Mehrere Stammtische gibt es schon. Und besonders viele Anhänger auf der Veddel.

Hamburg. Hans kommt etwas später, er trägt eine Allwetterjacke. Hans ist schon etwas älter, er könnte prima als Genosse durchgehen, als grau gewordene Eminenz der Sozialdemokraten. Er ist aber ein Anhänger der Piratenpartei, die sich in einer Kneipe am neuen Pferdemarkt trifft. Das Licht ist schummrig, zehn vor allem junge Leute sitzen bei Weizenbier und Cola zusammen. Hans ist die Ausnahme bei der Piratenpartei Hamburg, Stammtisch St. Pauli.

Hier ist die Piratenpartei jetzt zu Hause, genauso wie in St. Georg oder in der Schanze. Stammtische sollen überall in Hamburg entstehen. Politik wird vor Ort gemacht, im Kleinen. Die Piratenpartei selbst ist gar nicht mehr so klein. Der Erfolg bei der Bundestagswahl hat sie bekannt gemacht. Aha-Effekte gab es einige, zum Beispiel auf der Veddel. Der Hafenstadtteil in Hamburgs Süden wurde, um im Bild zu bleiben, von der Piratenpartei gekapert - sie erreichte 10,6 Prozent der Wählerstimmen und überholte damit die CDU, die in Hamburg den Ersten Bürgermeister und in Berlin die Kanzlerin stellt - und auf der Veddel nur auf 10,2 Prozent kam. Bundesweit liegt die Piratenpartei bei zwei Prozent, in Hamburg bei 2,6 Prozent. Fast aus dem Stand hat sich die alternative Partei, deren Themenfelder Bürger- und Urheberrechte, Internet, Patentrecht und Bildung betreffen, in den Mittelpunkt des Interesses befördert.

Auch deswegen finden sich nun überall Stammtische zusammen. Stammtische, nicht Ortsvereine. Die überall gültige Sprache der Parteipolitik ist bei den Piraten noch nicht angekommen. Die Organisationsform auch nicht, Sebastian hat das Wort, er holt aus: "In Poppenbüttel sind die Themen andere als auf St. Pauli." Denn seine Mitstreiter brauchen noch ein wenig Aufklärung: Was bedeutet es, Kommunalpolitik zu machen? Zum Beispiel für Gemeinschaftsstraßen zu kämpfen oder gegen Investoren auf St. Pauli, sagt Sebastian. Bundes- ist etwas anderes als Landes- oder kommunale Politik im Stadtteil, erfahren die Zuhörer.

Sie betreten an diesen Tagen Neuland. Es wird sich nicht hier und jetzt entscheiden, ob aus der Splitterpartei in den nächsten Jahren eine maßgebliche Kraft wird. Aber ob sie Politik mitgestalten wollen, das müssen sie jetzt entscheiden - und wie sie das tun wollen.

Es gibt Vorbehalte, zum Beispiel bei der jungen Dame mit der Brille, ein Lockenkopf mit heller Strähne: "Geht es bei den normalen Parteistrukturen nicht immer um Postengeschacher?" Ja, antwortet Sebastian, während die Kellnerin die nächste Bestellung aufnimmt, es gebe Flügelkämpfe und Strömungen in den Parteien, "so ist das".

Es sind wichtige Fragen, auf die die Piraten Antworten suchen. Wie wollen wir es machen? Welche Struktur geben wir uns? Und: Können wir Meinungsfindungs- und Entscheidungsprozesse weiter zu Hause am PC durchführen? Machen wir aus Kanada lokale Politik für St. Pauli, wenn wir ein Auslandssemester einlegen? Globales Denken, wie es sich für eine Partei gehört, deren Programm viel mit der digitalen Revolution zu tun hat. Manche finden, in Hamburg würde eine AG Landespolitik reichen, Sebastian und Andreas sind anderer Meinung: "Wir sind groß geworden, brauchen Struktur."

Einig sind sich die Piraten allerdings bei der Frage nach dem guten Wahlergebnis auf der Veddel - denn das war eine Überraschung für alle. Auf der Piraten-Hochburg gibt es keine Piraten, zumindest keine Parteimitglieder. "Wir haben alle Postleitzahlen unserer 600 Mitglieder durchgesehen und kein Mitglied auf der Veddel gefunden", sagt Nils Ketelsen, bei den Piraten zuständig für die Presse. Wer sind die Freibeuter, die dem Wahlversprechen "gegen Überwachung und für mehr Bürgerrechte" ihr Vertrauen geschenkt haben? Wer hat das Abenteuer "Klarmachen zum Ändern" auf dem Wahlzettel angekreuzt? Wo sind die Veddeler Piraten? Wer sich zwischen der Veddeler Brückenstraße und dem Veddeler Stieg umschaut, der stößt schnell auf die Klientel der neuen politischen Gruppierung.

Malte Kramer ist nur einer von rund 350 Studenten, die den Sprung über die Elbe gewagt haben und nun in staatlich geförderten Wohnungen auf der Veddel leben. Die Piraten hat der 24-Jährige zwar nicht gewählt. "Ich kann mir aber vorstellen, dass hier viele so gewählt haben, das muss an der Zusammensetzung des Stadtteils liegen", sagt der Stadtplanungsstudent. 4909 Menschen leben auf der Veddel, 2483 davon sind Ausländer und nicht wahlberechtigt. Bei der Bundestagswahl haben 866 Wähler eine gültige Stimme abgegeben, darunter waren 92 Piraten.

Eine von ihnen ist gerade auf dem Weg nach Hause, eine junge Frau - die Piraten sind längst nicht alle männliche Computerfreaks. Seit 25 Jahren lebt sie auf der Veddel und hat ihre Stimme der Piratenpartei geschenkt. Das verrät sie, ihren Namen aber nicht. "Ich habe die Piraten gewählt, weil ich Freiheit im Netz sehr wichtig finde und weil ich mir wünsche, dass die Piraten dafür sorgen, dass die S-Bahn-Station hier endlich eine Rolltreppe bekommt", sagt die 29-Jährige. Vielleicht werden die Piraten wirklich die Rolltreppe auf ihre Agenda setzen, nur wissen tun sie das jetzt noch nicht. Während die Partei noch an ihrer Selbstdefinition feilt, setzen die Wähler große Hoffnungen in sie. Auch der 30 Jahre alte Angestellte einer Online-Agentur: "Die CDU hat das Thema Online einfach verschlafen, deshalb habe ich die Piraten gewählt."

Es ist schon dunkel geworden, als ein bekennender Wähler der Piratenpartei mit dem Fahrrad aus der S-Bahn steigt. Daniel Moor (27) arbeitet in einer Fahrradwerkstatt in Harburg. Er ist Protestwähler - überzeugter. "Ich habe die Piraten gewählt, weil ich meine Stimme nicht wegschmeißen wollte. Ich finde gut, dass sie sich zur Wahl gestellt haben, aber viel Auswahl an Themen bieten sie nicht", sagt der Handwerker kritisch. Moor steigt auf sein Fahrrad und fährt aus dem Licht der grell beleuchteten S-Bahn-Station Richtung Veddeler Brückenstraße - mitten hinein ins vermeintliche Piratennest.

Es wird sich zeigen, wie groß dieses in Hamburg noch werden wird. Am spannendsten scheint die Beantwortung für die Piraten selbst zu sein. Einzig und allein am Rechner wollen sie nicht Politik machen, heißt es auf dem Stammtisch auf St. Pauli. "Wir brauchen Rede und Gegenrede im direkten Kontakt", sagt einer. Die Parteifreundin neben ihm widerspricht.