Der Sozialdemokrat hat dreimal mit großem Abstand gewonnen. Seine Konkurrenten kämpfen gegen die Statistenrolle.

Hamburg. Er hat Bienenstich mitgebracht, den guten, mit klebriger Mandelkruste und Vanillecreme. Die ganze Familie sitzt am Küchentisch. Der Sohn, der eine Privatschule besucht, weil die "Lehrer dort über Werte sprechen", wie der Vater sagt. Die Tochter, die glaubt, sie könne mit ihrer Wahlstimme "sowieso nichts ändern". Und die Mutter, die sich vorgenommen hat, Johannes Kahrs von der SPD kritische Fragen zu stellen. Also bleibt der Bienenstich auf dem Teller vor dem Bundespolitiker nur angebissen, er argumentiert für ein NPD-Verbot, gegen Atomkraft, die Konzernen täglich Millionen-Gewinne bringt, sagt "im Kern ist die Sache so" und "Wir glauben, dass ...". Alles mit einer Ruhe, die erlaubt, immer mal wieder den Hund zu streicheln, der unter dem Tisch liegt. Die Familie wird später sagen, der Politiker habe durchaus keinen schlechten Eindruck gemacht.

Johannes Kahrs, der Reserve-Offizier, weiß, wie das geht. Ohne Absicherung über die Landesliste holt er seit 1998 rund die Hälfte der Stimmen in Hamburg-Mitte. Direkter Kontakt, das ist sein System. Allein in diesem Jahr hat er 200-mal Hamburger zu Hause auf Kaffee und Kuchen besucht. Und kürzlich lud er zum 500. Mal Bürger zu einer Fahrt nach Berlin ein. 2500 mögliche Wähler treffe er so jedes Jahr persönlich. Und unter seinen vielen jugendlichen Helfern heißt es: "Johannes kann man anrufen, wenn man mal Probleme hat." Tief Luft holen muss Kahrs, der Goliath, um nur Teile seines Wahlkreises zu beschreiben, der mit 380 000 Einwohnern einwohnerreichste in Deutschland, der sich quer durch die Stadt zieht: Altstadt, Neustadt, St. Pauli, St. Georg, Hamm, Horn, Billstedt, Borgfelde, Hammerbrook, Veddel, Rothenburgsort, Finkenwerder, die Insel Neuwerk. "Alles meins!"

Seine Gegner finden, das reicht jetzt langsam. Erstens, weil die SPD allgemein an Stimmen verliert. Zweitens ist Integrationspolitik entscheidend in dem Wahlkreis mit exponiertem Migrantenanteil - warum dieses Feld Kahrs überlassen? Zumal bekannt ist, dass die Rüstungsindustrie für seinen Wahlkampf spendet.

So denkt sein Herausforderer, der das "Duell um Berlin" ausgerufen hat, und präsentiert sich entsprechend soft: "Sweety Glitter & The Sweethearts" spielen für Farid Müller (GAL). Ein Solikonzert, um Spenden zu sammeln. Das passt, irgendwie will Müller auch ein Sweetheart sein. "Echt blöd" findet er, dass die Elbphilharmonie nun teurer wird und er das nun gemeinsam mit der CDU tragen muss. Er will mit "Irrtümern" aufräumen und wirft Kahrs vor, seinen Wahlkampf nur über Aktivitäten in der Hansestadt zu gewinnen - und nicht durch Arbeit in Berlin, wie es sein sollte. Kahrs sagt, er sei eben "Reparaturbetrieb" für Kommunalpolitik, die nicht funktioniere.

Im Unterschied zu den Volksparteien setzt die GAL auf Subkulturen. Nicht nur auf St. Pauli, wo Klubs schließen.

Zum Beispiel Hip-Hop in Billstedt. Das Mädchen auf der Bühne singt zum Beat, auf dem Klaviertöne funkeln: "Freiheit ist, wenn ich das tun kann, was ich tun möchte." Müller nickt mit seinem Kopf, hier im Keller des Kulturpalastes bei der "Hip-Hop Academy". Man spürt den Zauber, den Musik und Tanzen verbreiten können, wenn Jugendliche sich stark genug damit identifizieren. Auch Cem Özdemir ist hier, Grünen-Bundesvorsitzender, und rappt spontan: "Ich heiße Cemal, und ich glaube, ich geh mal." Den Jungs und Mädels gefällt das. Auch dass Özdemir sagt: "Ich hatte früher in Deutsch eine Fünf, deshalb brauchen wir Schulen, die alle fördern."

Würde es um stilistische Noten gehen, wären die Grünen ohnehin vorne: Während Kahrs junge Helfer ein SPD-Logo auf dem T-Shirt tragen, das an die unbeholfene Jugendwerbung einer Sparkasse erinnert, fährt die GAL mit Airbrush-Plakaten auf. Ein Glück für Grafiker, dass Atomtonnen schwarz-gelb leuchten.

Aber ist das massentauglich genug für Hamburg-Mitte? Die CDU jedenfalls scheint es allen recht machen zu wollen, offenbart damit allerdings interne Gräben: Eigentlich sollte Direktkandidat David Erkalp wichtigster Mann im Wahlkreis sein, doch es hängen hier auffällig viele Plakate von Christoph de Vries, der auf der CDU-Landesliste steht. Die Union will mit Erkalp offensichtlich nicht ausschließlich auf einen Aramäer, also gebürtigen Türken mit christlichem Glauben, setzen. Erkalp jedenfalls sagt, er habe einen 20-Stunden-Tag: "Ich bin Marketing-Direktor, Webdesigner, Plakatkleber und die Hauptfigur gleichzeitig." Die Unterstützung einer großen Partei klingt anders. So wird dieser David den Goliath schwer schlagen können.

An den Ständen auf dem Billstedter Markt hängen rosa Jogginghosen, Gemüsehändler bieten Linsen und Chilischoten an, zwischendrin steht Lothar Hänsch und wirbt für die liberale Sache: "Ich habe nur die Volksschule besucht und lege Wert darauf, dass ich nicht asozial bin", sagt der FDP-Mann, wenn er nach Gerechtigkeit im Bildungssystem gefragt wird. Hänsch gibt zu, hier "einen schweren Stand" zu haben, sieht aber Chancen.

Bei den Wahlen 2005 war die Linke vierte Kraft in Hamburg-Mitte, und sieht man den Bundestrend, wird die Partei zulegen. Joachim Bischoff, der hier kandidiert, gilt als fundierter Kritiker. Sogar Ole von Beust (CDU) lobte einmal öffentlich seine Rede zur HSH Nordbank. Manchmal, im Gespräch mit seinen Wählern, lächelt Bischoff nicht mehr und setzt seinen Was-ich-jetzt-sage-ist-kein-Spaß-mehr-Blick auf: "In Horn, wo die Armut aus jeder Tür schaut, will der Senat eine Pferderennbahn für die Millionäre bauen, das ist pervers." Man kann sicher sein, dass Bischoffs Botschaft vielerorts ankommt.

Es ist spät geworden. Johannes Kahrs sitzt im Taxi, zuvor hat er in einem alevitischen Kulturzentrum diskutiert. Ob er diesen und jenen türkischen Terroristen kenne, wurde er gefragt, und warum er mit Verwandten dieser Person auf Gruppenfotos zu sehen sei. Irgendwann platzte Kahrs: "In diesem Land darf man sich mit Menschen treffen, auch wenn sie Verwandte haben, die vielleicht Dreck am Stecken haben." Nun lässt sich Kahrs in den Sitz zurückfallen. Vielleicht liegt hier die einzige Chance seiner Herausforderer: Auch ein Goliath muss mal schlafen.