Im Phoenix-Viertel herrscht nach der grausamen Tat bedrückte Stimmung. Das Mädchen wird im UKE behandelt – eine langwierige Therapie ist notwendig. Haftbefehl gegen Bernd L. erlassen.
Harburg. Grau sieht das Phoenix-Viertel aus, am Tag nach dem Bekanntwerden des Missbrauchs eines erst fünf Jahre alten Mädchens. Regen fällt. In der Schule an der Maretstraße, wo das Mädchen die Vorschule besucht, hat der Bürgernahe Beamte der Polizei die Lehrer über die Tat informiert. Eine Sozialarbeiterin des Kennedy-Hauses, an dem der Spielplatz liegt, von dem aus das Mädchen in die Wohnung des 63-jährigen Bernd L. mitging, ist mit den Eltern ins Krankenhaus gefahren.
Die Fünfjährige, die nach Erkenntnissen der Polizei gefesselt und missbraucht wurde, ist am Sonntagabend operiert worden. Einige Tage, so die Prognose der Ärzte, wird das Kind noch im Krankenhaus bleiben müssen. Die körperlichen Verletzungen seien behandelbar. Wie abgrundtief die Seele des kleinen Mädchens verletzt wurde, weiß jedoch noch niemand.
Wie ein Lauffeuer hat sich die Tat in dem 20 Hektar großen Harburger Phoenix-Viertel herumgesprochen, in dem knapp 5000 Menschen leben. Die meisten, 60,8 Prozent, haben ausländische Wurzeln, einen Migrationshintergrund, wie man es heute politisch korrekt nennt.
Unter den Kindern und Jugendlichen sind es sogar 78,6 Prozent. Das Quartier, das direkt an die Harburger Innenstadt grenzt, gilt als sozialer Brennpunkt. 30,4 Prozent der Menschen, die dort leben, beziehen Sozialleistungen. Bei den Kindern unter 15 sind es, so die Zahlen des Statistikamtes Nord von 2012, sogar 63,3 Prozent. Die Wahlbeteiligung war mit 31,8 Prozent weit unterdurchschnittlich, die Arbeitslosigkeit liegt mit 13,1 Prozent deutlich über dem Schnitt. Es gibt Einrichtungen wie das Löwenhaus, in das Kinder kommen können, um eine warme Mahlzeit oder etwas Ruhe zu bekommen.
In diese Gegend war Bernd L., gegen den wegen des Missbrauchs an dem Mädchen nun Haftbefehl erlassen wurde, vor wenigen Jahren gezogen. Er ist einer der Bewohner dort, die Sozialleistungen beziehen. Wie auch sein Nachbar verdiente sich Bernd L. durch den Verkauf der Obdachlosenzeitung „Hinz &Kunzt“ ein bisschen was dazu. In der Redaktion des Magazins herrscht tiefe Betroffenheit. Die Vergewaltigung des Kindes durch Bernd L. sei binnen zwölf Monaten leider bereits das zweite schwere Verbrechen, das von einem der Verkäufer verübt wurde: Vor einem Jahr war Frank W. in die Wohnung einer Frau eingedrungen und hatte sie vergewaltigt.
Bernd L. war seit 2007 regelmäßig zwei- bis dreimal im Monat in den Redaktionsräumen an der Altstädter Twiete aufgetaucht, um die Zeitungen abzuholen, die er in Harburg verkaufte. Dass er ein solches Verbrechen begehen könnte, hat in der Redaktion niemand für möglich gehalten. „Er wirkte immer sehr freundlich und war nie alkoholisiert“, sagt Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer dem Abendblatt.
Probleme habe Bernd L. niemals erwähnt, er habe höchstens mal um Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen gebeten. Lange aufgehalten habe er sich in der Redaktion auch nie. „Es hat ihn immer schnell wieder nach Harburg gezogen“, sagt Sozialarbeiter Karrenbauer. „Von der Innenstadt-Szene hat er sich, obwohl er lange hier Platte gemacht hat, komplett gelöst.“
Bernd L. war obdachlos, bis die Sozialarbeiter ihm zunächst eine Unterkunft in einem Wohncontainer vermittelten und er anschließend in eine Harburger Wohnung umziehen konnte.„Dieses Verbrechen ist furchtbar, da fehlen mir die Worte“, sagt Karrenbauer. „Bei 6000 Verkäufern kann man leider nicht ausschließen, dass schwarze Schafe dabei sind.“
Was einen Mann zu einer solchen Tat treiben könnte, versucht ein Fachmann zu erklären. Bis zum Alter von 63 Jahren hat Bernd L. weitgehend unauffällig gelebt. Er galt weder als pädophil noch war er durch Sexualdelikte aufgefallen – lediglich 2011 wurde er als Stalker aktenkundig, weil er seine Ehefrau, die ihn 2011 verlassen hatte, verfolgte. Was kann einen Menschen wie ihn dazu bringen, ein abscheuliches Verbrechen an einem fünfjährigen Mädchen zu begehen?
„Nicht jede sexuelle Straftat wird von einem Triebtäter begangen“: sagt Dr. Guntram Knecht, seit 13 Jahren Leiter der forensischen Psychiatrie im Asklepios Klinikum Nord. Fast zehn Prozent der Taten würden spontan von sogenannten Gelegenheitstätern begangen. „Der Auslöser bei Bernd L. könnte ein Zusammenspiel von Lebenskrise und alkoholbedingter Enthemmung sein“, vermutet der Mediziner Guntram Knecht.
Von der Frau verlassen, materiell knapp aufgestellt, ohne Orientierung und fast dauerhaft alkoholisiert – da sei es offenbar zu einer „Kurzschlusshandlung“ gekommen. Bernd L. habe möglicherweise das Gefühl gehabt, „sich jetzt einfach zu nehmen, was ihm zusteht“, so Dr. Guntram Knecht. Was genau zu dem Verbrechen geführt habe, könnten jetzt allerdings nur die Gutachter klären.