Neue Serie von Abendblatt und Kiekeberg-Museum beschreibt den Wandel von Landwirtschaft und Ernährung seit 1800. Teil 1: Zucker

Gummibärchen aus der Tüte, Eiscreme in allen Geschmacksvariationen, Marmelade, Nutella und Schokolade wären ohne Zucker nicht das, was sie sind. Denn die kleinen weißen Kristalle machen viele Gerichte und Speisen erst so richtig lecker. Dass es Zucker heutzutage in nahezu jedem Geschäft zu kaufen gibt, ist der heimischen Runkelrübe zu verdanken: Sie machte das einst so teure Luxusgut, das um 1800 noch als Rohrzucker aus Übersee nach Deutschland importiert werden musste, erschwinglich - und Süßigkeiten zu einer Massenware. Eine Dauerausstellung im Freilichtmuseum am Kiekeberg informiert die Besucher seit Mai über die Geschichte, die Herstellung und den vielfältigen Einsatz des sogenannten weißen Goldes, das Tag für Tag auf dem Tisch der Menschen landet.

Wer den Geschmack von zuckerhaltigem Essen kennt, will nicht mehr auf den kalorienreichen Geschmacksträger verzichten, der schon Babys ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Die Nahrungsmittelindustrie weiß das zu schätzen: Sie baute in den vergangenen Jahrzehnten eine große Maschinerie zur Herstellung und Vermarktung immer wieder neuen und altbewährten Naschwerks auf. Inzwischen ist aus dem Luxusgut Zucker ein allgegenwärtiges Nahrungsmittel geworden.

Die Zuckerproduktion bewegte auch im Landkreis Harburg die Menschen. Zehn Jahre lang versuchte der landwirtschaftliche Verein aus Hittfeld gegen Ende des 19. Jahrhunderts, eine Zuckerfabrik zu etablieren. Die Bemühungen scheiterten; heute gibt es im norddeutschen Raum mit Nordzucker einen einzigen Hersteller.

Der Zucker ließ im Landkreis Harburg aber nach und nach neue Industriezweige entstehen. "Der unbegrenzte Zugang zu Zucker hat auch bei uns in der Region neue, innovative Berufsfelder etabliert", sagt Prof. Rolf Wiese, Direktor des Kiekeberg-Museums. Die Firma Winsenia beispielsweise stellte nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Obstkonserven her. Später spezialisierte sich der Familienbetrieb auf die Produktion von Marmeladen, Konfitüren und Nuss-Nougat-Cremes. Die Firma Eisbär aus Apensen stellt in großen Mengen Eiscreme her und liefert sie in die ganze Welt. Zieler & Co. versorgt Reformhäuser und Confiserien mit süßem Naschwerk aus Schokolade, Nüssen, Früchten und vielem mehr.

Diesen drei Unternehmen widmet die Dauerausstellung im Museum Raum. Es gibt darüber hinaus auch Mitmachaktionen. So erfahren die Besucher beispielsweise, wie viel Würfelzucker in einer Tüte Gummibären steckt und wie oft sich der Reifen eines Trimm-dich-Fahrrads drehen muss, um ein Bonbon "abzutrainieren".

Dass die meisten Menschen Süßigkeiten lieben, ist kein Geheimnis: Der Zuckerkonsum hat sich weltweit innerhalb von 50 Jahren verdreifacht auf derzeit 165 Millionen Tonnen pro Jahr. Unangefochten an der Spitze stehen die Amerikaner. Sie bringen es auf 58 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Der Durchschnittsbürger hierzulande nimmt immerhin rund 36 Kilogramm pro Kopf zu sich. Das sind etwa 95 Gramm am Tag. Diese Menge entspricht in etwa dem Doppelten dessen, das die Deutsche Gesellschaft für Ernährung als Richtwert empfiehlt.

Oftmals bleibt den Konsumenten aber auch verborgen, dass sie mit ihrer Nahrung auch eine größere Menge an Kristallzucker zu sich nehmen. Denn der Stoff steckt nicht nur in Süßigkeiten. Er ist auch Bestandteil von Wurst, Brot, Frischkäse, panierten Schnitzeln, Salatsoßen, Pizzen, Frühstücksflocken und Salzstangen.

Selbst Gemüse ist reich an Zucker - wie beispielsweise die heimische Runkelrübe. Das entdeckte der Berliner Chemiker Andreas Sigismund Marggraf im Jahr 1747. Er wies nach, dass sie den gleichen Zucker wie das Zuckerrohr besitzt. Marggrafs Schüler Franz Karl Achard erhöhte anhand der Forschungsergebnisse schließlich den Zuckergehalt der Runkelrübe und stellte 1796 in Kaulsdorf den ersten aus Rüben gewonnenen Zucker her.

Die Rübenernte war allerdings eine schweißtreibende Angelegenheit: Zwischen März und April werden die Früchte der landwirtschaftliche Kulturpflanze aus der Familie der Fuchsschwanzgewächse ausgesät. Früher wurde das Feld mehrfach behackt, um die Rüben vor Unkraut zu schützen. Zwischen September und November wurde geerntet. Mit dem Spaten oder Pferdegespann und Pflug hebelten die Landwirte die Rüben aus der Erde. Anschließend befreiten sie die Früchte mit Stoßmessern vom Grün. Ab 1900 verwendeten die Bauern dann Köpfschlitten und Rübenroder. Die ersten Vollroder kamen in den 30er-Jahren auf den Markt. Sie sind die Vorläufer der heute eingesetzten Vollernter.

Im Laufe des 20. Jahrhundert verringerte die zunehmende Mechanisierung den Arbeitsaufwand erheblich. Benötigten die Erntehelfer und Produzenten um 1900 noch 50 Arbeitsstunden für die Herstellung von 100 Kilogramm Zucker, ist das heutzutage schon in einer halben Stunde zu schaffen. Gleichzeitig erhöhte sich der Ertrag. Ein 19 Tonnen schwerer Dampfpflug gehört zur Dauerausstellung im Freilichtmuseum. Er soll ebenso wie die zweireihigen Rübenroder und Köpfschlitten die Besucher als Zeitzeugnis an den historischen Zuckerrübenanbau erinnern.