Polizeiliche Auswertung statistischer Messungen im Widerspruch zum Empfinden der Anwohner

Harburg. Anwohner der Bundesstraße 75, sie trägt im Bezirk Harburg auch den Namen "Bremer Straße", protestieren seit mehr als einem Jahr in der Interessengruppe "Engagierte Harburger" gegen zunehmenden Verkehr und aller damit verbundenen Beeinträchtigungen wie Lärm und Erschütterungen. Insbesondere während der Nachtstunden würden die Fahrer schwerer Lastwagen die Strecke als Autobahn-Abkürzung zwischen Hamburg und dem Buchholzer Dreieck benutzen und mit Vollgas über die Bremer Straße donnern - mitten durchs Wohngebiet. So lautet der heftigste Vorwurf.

Und die Forderung der Anlieger: Totales Lkw-Verbot oder Tempo 30 oder Rotlicht-Ampeln für alle, die schneller als 50 km/h fahren. Wegen ihrer Forderungen ist auch Prof. Dr. Heinrich Reincke aus dem Planungsstab der Hamburger Senatskanzlei eingeschaltet, Lösungen zu finden. Reincke ist ebenfalls mit dem Mobilitäts- oder Gesamtverkehrskonzept für den Hamburger Süden befasst, das der alte Senat unter der früheren Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk trotz gesteckten Termins nicht fertiggestellt hat.

Um festzustellen wie hoch das Verkehrsaufkommen auf der Bremer Straße ist und wie schnell die Fahrzeuge dort unterwegs sind hatte der Planungsstab des Senats die Polizei mit elektronischen Messungen beauftragt. Die Ergebnisse, die von einem vollautomatisch arbeitenden grauen Kasten, einem Verkehrsstatistikgerät, geliefert wurden und inzwischen von der Polizei ausgewertet worden sind, zeigen allerdings deutlich, dass die Wahrnehmung der Anwohner und die gemessene Realität weit auseinander driften. Wichtigste Erkenntnis: Auf der Bremer Straße, wo 50 km/h erlaubt ist, wird nicht wirklich gerast, weder tagsüber noch nachts.

Aber der kleine graue Messkasten im Format zweier Schuhkartons, der vergangenen Herbst am Fahrbahnrand der Bremer Straße für eine knapp zweiwöchige Langzeitmessung (vom 13. bis 24. September) außerhalb der verkehrsärmeren Ferienzeit an Schildermasten installiert war, sei nach Meinung der "Engagierten Harburger" und ihrer Sprecherin Annemarie Schulz kein Beweismittel. Alle Autofahrer hätten den Kasten gesehen und seien eben genau an dieser Stelle langsam gefahren. Und die Lkw-Fahrer, die warnen sich doch ohnehin alle gegenseitig über Funk, wenn irgendwo kontrolliert wird. Das wisse doch jeder, so Annemarie Schulz. Sie sagt: "Wir haben diese Woche wieder ein Gespräch in der Senatskanzlei, um weiteres Vorgehen zu besprechen. Und wir haben auch unsere Fühler zur neuen Bezirksversammlung und der SPD-Regierung ausgestreckt. Es gibt viel zu tun. Da sind auf der Bremer Straße zwischen Sunderweg und Landesgrenze kürzlich Asphaltschäden so schlampig repariert worden, dass wir Erschütterungen immer noch direkt mitkriegen. Wir werden uns für dieses Jahr weitere Demonstrationsaktionen einfallen lassen."

Beim Harburger Polizeikommissariat 46 befasst sich Dietmar Thoden mit der Verkehrsproblematik auf der Bremer Straße und bemüht sich dabei um Objektivität. Er sagt: "Natürlich ist die Bundesstraße 75 eine viel genutzte Verkehrsverbindung. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Hamburg eine Großstadt und Wirtschaftsmetropole ist. Ohne den Verkehr auf Straße und Schiene durch bewohnte Gebiete wird es nicht gehen. Anwohner von Hauptstraßen ertragen dabei sicherlich Belastungen, die außerhalb der Metropole weniger wären. Unsere Langzeitmessungen zu Tages- und Nachtzeiten und bei zusätzlich zur Nachtzeit ausgeschalteten Fußgängerampeln belegt aber, dass von den im gesamten Messzeitraum festgestellten 137 816 Fahrzeugen nur 0,9 Prozent 60 km/h oder schneller fuhren. Das ist nach unserer Erfahrung ein eher niedriger Wert."

Um die Messergebnisse nicht zu verfälschen, wurden alle Fahrzeuge, die im Stau- und Kolonnenverkehr nur langsam fuhren von vornherein aus der Wertung genommen. Während der Nachtzeit, 20 bis 6 Uhr, wurden während des Messzeitraums insgesamt 19 833 Fahrzeuge vom Verkehrsstatistikgerät erfasst. Da nachts kein Kolonnenverkehr das Tempo bremst, wurde insgesamt schneller gefahren. Aber der Anteil der Autofahrer, die mit 60 km/h oder schneller unterwegs waren, gilt mit 3,9 Prozent als weitgehend normal. Da das Statistikgerät alle Arten von Fahrzeugen, Motorrad bis Lastwagen, unterscheiden kann, konnte festgestellt werden, dass von 4235 Sattelzügen lediglich vier Lkw zwischen 70 und 79 km/h schnell waren. Kein Lkw fuhr 80 km/h oder schneller.

Die vom Statistikgerät gelieferten Daten decken sich mit den Ergebnissen, die von den Beamten der Polizei-Verkehrsstaffel bei insgesamt 77 Radarmessungen im Zeitraum 2008 bis 2010 festgestellt wurden. Von 76 040 Fahrzeugen waren 3758, entspricht 4,94 Prozent mit 59 km/h oder mehr geblitzt worden. Thoden schlussfolgert: "Die Ergebnisse können kein Anlass sein für weitergehende Maßnahmen wie Lkw-Verbot oder häufig auf Rotlicht geschaltete Ampeln."