Drei Rentner haben 80 000 Euro mit Lehman-Zertifikaten verloren - jetzt kämpfen sie in Harburg gemeinsam für ihr verlorenes Vermögen.

Wilhelmsburg/Harburg. Sie eint der Frust. Die Wut. Das Nichtverstehenkönnen. Der Hass auf das System, das Bankensystem. Hass auf ihre Berater, die ihnen etwas für viel Geld angedreht haben, was heute wertlos ist: Lehman-Zertifikate.

Insgesamt 80 000 Euro investierten Edeltraut Grattolf, 61, Bernd Bielawski, 63, und Alfred Kittelberger, 71, im Jahr 2007 in hochspekulative Zertifikate der damals viertgrößten US-Investmentbank: Lehman Brothers.

Die Bank ging im Zuge der Finanzkrise im September 2008 pleite. Die Bank gibt es nicht mehr. Damit sind die Inhaberschuldverschreibungen von Lehman Brothers null Cent wert. Und Frau Grattolf, ihr Partner Herr Bielawski und Herr Kittelberger können seitdem ein Lied davon singen, wie es sich anfühlt, wenn man gegen Windmühlen kämpft. Wenn man ohnmächtig ist, dass nichts passiert, dass die Banken, die ihnen die Schrottpapiere verkauft haben, einen Deubel tun, ihnen auch nur einen Cent zurückzuerstatten.

"Die Frechheit der Banken ärgert uns am meisten", sagt Herr Kittelberger aus Marmstorf, der an diesem Nachmittag Frau Grattolf und Herrn Bielawski in ihrem Wilhelmsburger Reihenhaus besucht. "Die Banken haben die Gelder, uns zu entschädigen. Die haben ja auch hervorragend an uns verdient. Wir warten jetzt auf ein Bundesgerichtsurteil."

Vor allem wartet das Trio auf "Gerechtigkeit". Deswegen haben die drei "Lehman-Opfer" vor zwei Jahren einen Plan geschmiedet: "Wir demonstrieren jeden Freitag um 11 Uhr vor den Banken, die uns in die Bredouille geritten haben." Und so demonstrieren Frau Grattolf, Herr Bielawski und Herr Kittelberger jeden Freitag in Harburg: vor der Commerzbank-Filiale an der Lüneburger Straße 47 und vor der Filiale der Targobank am Harburger Ring 8 - 10. Als ihren größten Erfolg werten sie es, dass sie ein Ehepaar vor der Commerzbank davon abhalten konnten, eine halbe Million Euro anzulegen. "Die haben wir zu einer seriöseren Bank geschickt."

Mächtig sauer sind die drei "Lehman-Opfer" auf ihre Berater, "die uns den Mist verkauft haben". Auf Vanessa F. (Name von der Redaktion geändert) von der Targobank am Harburger Ring. Frau F. ist um die 30 Jahre alt und hat Herrn Kittelberger Lehman-Zertifikate für 40 000 Euro verkauft. Sie kannte Herrn Kittelberger persönlich, hatte ihn mit seiner Frau in die VIP-Lounge der Color Line Arena eingeladen und an Bord der Louisiana Star. Es liege zu viel Geld auf dem Girokonto von Herrn Kittelberger, sagte Frau F. den Kittelbergers am 4. Oktober 2007 in ihrer Filiale. Ob die Lehman-Papiere sicher seien, fragte Herr Kittelberger. "Wenn die viertgrößte Bank der Wall Street pleite geht, ist die Welt kaputt", sagte Frau F.. Das überzeugte die Kittelbergers.

Die drei "Lehman-Opfer" sind auch sauer auf Andreas V. (Name von der Redaktion geändert) von der Commerzbank in Lüneburg. Er ist um die 40 Jahre alt, kannte Frau Grattolf und Herrn Bielawski von der Wilhelmsburger Dresdner-Bank-Filiale und bat sie, ihr Wertpapierdepot mit in die Salzstadt zu nehmen. Herr V. hat Frau Grattolf und Herrn Bielawski Lehman-Zertifikate für je 20 000 Euro verkauft.

Die Dresdner Bank ist mittlerweile von der Commerzbank geschluckt worden. Die Targobank hieß 2007, als Herr Kittelberger dort Lehman-Zertifikate kaufte, Citibank. "Wir werden vor diesen Banken so lange demonstrieren, bis wir tot sind oder bis wir unser Geld zurück haben", sagt Frau Grattolf. "Die können ihre Namen so oft ändern, wie sie wollen, wir bleiben am Ball. Wir sind ja alle Rentner und haben viel Zeit."

Viel Zeit haben Frau Grattolf und Herr Bielawski mit dem Verfassen und Lesen von Schriftstücken verbracht. Drei pralle Ordner legen Zeugnis von ihrer Arbeit ab. Das I-Tüpfelchen sind zwei Schreiben von Martin Blessing, dem Vorstandsvorsitzenden der teilstaatlichen Commerzbank. "So sehr ich die Ihnen entstandenen Verluste bedaure, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass aus meiner Sicht in der Sache alle Gesichtspunkte ausdiskutiert sind", schreibt Blessing am 15. Mai 2009. Am 3. Juni 2009 schreibt er "mit freundlichen Grüßen": "Insofern bleibe ich bei meinen Auffassungen gemäß meinem Schreiben vom 15. Mai 2009 und sehe, auch unter Würdigung der für Sie schmerzhaften Verluste, ohne neue sachliche Inhalte keine Veranlassung für weitere Korrespondenz."

Das Unglück mit den Lehman-Papieren, die heute nichts mehr wert sind, nimmt für Frau Grattolf und Herrn Bielawski am 6. Februar 2007 seinen Anfang. Das Paar sitzt nach der Arbeit zu Hause in der gepflegten Stube in Wilhelmsburg, das Telefon klingelt gegen 17 Uhr ihr Berater Andreas V. ist am Apparat. Er habe etwas ganz Tolles und Sicheres für das Paar, eine "einmalige Chance": Wertpapiere mit der Bezeichnung "Lehman Brothers Treas. Co. B.V. Glob. Champ. Zt07 (13.5.10) Index Bskt." Er habe, sagt Herr V., "nur ganz bestimmte Kunden ausgewählt".

8,75 Prozent Rendite winken per anno. Was sind dagegen schon die mageren 3,5 Prozent Zinsen, die es gerade auf dem Tagesgeldkonto gibt? Und das ganze soll ja "bombensicher" sein, eine formidable Investition, die dem Wilhelmsburger Paar den zweiten Traumurlaub in Südafrika ermöglichen würde. Aber Frau Grattolf und Herr Bielawski wollen erst mal Unterlagen haben, schwarz auf weiß lesen, was sich hinter den tollen Wertpapieren verbirgt.

Am nächsten Tag sind keine Unterlagen im Briefkasten, dafür ruft Herr V. wieder aus Lüneburg an: "Sie müssen sich heute entscheiden, sonst verfällt diese einmalige Gelegenheit." Frau Grattolf und Herr Bielawski schauen sich an. Sie beglückt die Aussicht auf eine erquickliche Rendite. Sie sagen "Okay, machen wir!" Jeder investiert 20 000 Euro in die Lehman-Papiere. Herr V. verdient für seine Bank 870,60 Euro Provision - ein schöner Gewinn für zwei Telefongespräche à rund fünf Minuten.

Es hätte eine schöne Geschichte werden können, die Geschichte zwischen Frau Grattolf, Herrn Bielawski und Herrn V. Das Wilhelmsburger Paar hätte ordentlich Zinsen verdienen und Herr V. zufrieden sein können, dass er den Gewinn seiner Bank und seinen Monatslohn vermehrt und einem Paar kurz vor der Rente eine schöne Anlage verkauft hätte.

Was keiner der drei ahnen konnte, war, dass eine Wirtschafts- und Finanzkrise historischen Ausmaßes den Globus erschüttern und dass ein Bankenmonolith wie Lehman Brothers vom Erdboden verschwinden würde.

Am Freitag, 12. September 2008, drei Tage, bevor Lehman Brothers Gläubigerschutz nach US-Insolvenzrecht beantragte, wurde es Frau Grattolf und Herrn Bielawski mulmig. Sie wollten Andreas V., ihren Berater von der "Beraterbank", sprechen und die Zertifikate verkaufen. Herr V. sei nicht zu sprechen, hieß es am Telefon. Ob ein Vertreter die Papiere verkaufen könne, fragte das Wilhelmsburger Paar. Es sei keiner da, der ihrem Wunsch entsprechen könne, hieß es am Telefon.

Am Montag, 15. September 2008, waren Lehman Brothers bankrott und Frau Grattolf und Herr Bielawski um 40 000 Euro ärmer. Die Finanz- und Wirtschaftskrise kam ins Rollen, und die Welt erlitt einen Vermögensverlust von mindestens 15 Billionen Dollar - das ist 375 000 000 Mal so hoch wie der Verlust des Wilhelmsburger Paares.

Mittlerweile haben Frau Grattolf und Herr Bielawski Klage einreichen lassen beim Landgericht Hamburg. Ihr Anwalt bittet "um Anberaumung eines zeitnahen Gütetermins. Sollte die Güteverhandlung scheitern, so werden wir beantragen, die Commerzbank AG zu verurteilen, an die Klägerin 38 752,31 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. November 2008 (...) zu zahlen." Die "Vorschussanforderung" des Rechtsanwalts beträgt 2613,19 Euro.

Frau Grattolf und Herr Bielawski hoffen auf "Gerechtigkeit". Auf ein Gericht, das ihnen Recht gibt und nicht der zweitgrößten deutschen Bank, die zu 25 Prozent plus einer Aktie dem Staat gehört. "Es kann nicht sein, dass die Banken eine Volkswirtschaft in den Abgrund reiten und wir darunter leiden. Und dann bekommen viele Banker noch Millionenabfindungen, obwohl sie Unheil gestiftet haben", sagt Herr Bielawski. "Wenn wir unserer Bank Geld anvertrauen, dann soll sie vernünftig damit umgehen. Aber heute sind die Berater ja keine gestanden Bankkaufleute mehr, sondern haben eher die Mentalität von Heizdeckenverkäufern - sie stehen unter einem immensen Verkaufsdruck. Wenn die Richter nicht so bankenfreundlich urteilen würden, würden die Banker vorsichtiger werden."

Wie die Richter am Landgericht Hamburg urteilen werden, steht in den Sternen. Sicher ist, dass Frau Grattolf, Herr Bielawski und Herr Kittelberger weiter demonstrieren werden vor der Commerzbank und der Targobank in Harburg, jeden Freitag um 11 Uhr.