Wenn zu den Bahngleisen die neue Reichsstraße kommt, werden 40 Anlieger am Vogelhüttendeich von Lärmquellen quasi eingepfercht.

Wilhelmsburg. Wer in den Garten des Paares Claus Warnecke, 67, und Gerda Lindner, 65, am Vogelhüttendeich 180 im Norden Wilhelmsburgs kommt, der könnte auf den ersten Blick denken, er beträte ein kleines Paradies: Von den Nachbarbauten ist von dem 1010 Quadratmeter großen Grundstück fast nichts zu sehen. Große Zypressen stehen auf dem Grün. Buchfinken zwitschern auf den Zweigen, Tulpen blühen im Beet. Für den Enkelsohn Tom, 5, der mit seinen Eltern Gaby Lindner, 41, und Norman Schulten, 36, auch im Haus wohnt, wurde im Garten ein Turmhaus mit Rutsche, eine Schaukel und ein kleiner Swimmingpool errichtet.

Die Welt könnte so schön sein am Vogelhüttendeich. Wären da nicht die Bahngleise, die rund 70 Meter am Haus vorbeiführen. Alle zwei bis drei Minuten fährt bei Claus Warnecke und Gerda Lindner ein Zug vorbei. Und mit den Zügen wird es richtig laut - im Garten und im Haus.

"Als ich das Grundstück 1979 kaufte und hier ein Haus baute, war es noch deutlich ruhiger", sagt Gerda Lindner. "Da gab es noch keine S-Bahn, keinen Metronom und keinen ICE, und es fuhren auch nicht so viele Güterzeuge."

Vor allem die bis zu 700 Meter langen Güterzüge machen Gerda Lindner und Claus Warnecke zu schaffen. "Zwischen 22 und 23 Uhr fahren immer zwei bis drei Güterzüge vorbei", sagt Claus Warnecke. "Dann vibriert das Haus, das spüre ich sogar, wenn ich im Sofa sitze."

Mit dem Bahnlärm haben sich Gerda Lindner und Claus Warnecke einigermaßen arrangiert. "Wenn man das Knattern und Rauschen im Garten hört, wird einem schon manchmal kribbelig zumute und man kann sich nicht richtig konzentrieren, aber insgesamt können wir hier noch ganz anständig leben."

Doch jetzt droht eine zweite Lärmquelle das Leben von Gerda Lindner und Claus Warnecke zu beinträchtigen: die Wilhelmsburger Reichsstraße (B4/75), die in Richtung Osten verlegt werden soll. Nach den Unterlagen des derzeit laufenden Planfeststellungsverfahrens würde die neue Reichsstraße bis zu 60 Meter am Grundstück des Paares vorbeiführen. "Dann würden wir noch viel mehr unter Lärm und Autorauschen leiden", sagt Claus Warnecke.

Das Paar wäre nicht allein betroffen: Rund 40 Wilhelmsburger am Vogelhüttendeich sollen durch die Bahngleise und die neue Reichsstraße eingepfercht werden. Wenn die Pläne der Stadt Wirklichkeit werden, würden sie in einem kleinen Lärmkessel leben.

Sonja Giercke, 48, und Gabriele Burghart, 67, leben in einem Dreifamilienhaus am Vogelhüttendeich 172. Wenn die neue Reichsstraße kommt, würden sie sogar nur rund 30 Meter von der autobahnähnlichen Trasse entfernt leben. "Freiwillig will ich nicht von meiner angestammten Heimat wegziehen", sagt Gabriele Burghart. "Ich werde erst mal schauen, wie laut es wird, wenn die neue Reichsstraße kommt."

Claus Warnecke hat bereits Unterlagen vorliegen, die konkrete Lärmwerte nach der Reichsstraßenverlegung angeben. Am Tag wird es demnach bei ihm ohne zusätzlichen Lärmschutz wie mehrfach verglasten Fenstern bis zu 65 Dezibel laut, nachts bis zu 64 Dezibel. Mit Extra-Lärmschutz sinken die Werte auf bis zu 61 Dezibel (tagsüber) und bis zu 60 Dezibel (nachts).

Die CS-Planungs- und Ingenieurgesellschaft mbH hat die Grenzwerte für Gerda Lindners Haus auf 67 Dezibel tagsüber und 57 Dezibel nachts festgelegt. Diese Werte will Claus Warnecke jetzt im laufenden Planfeststellungsverfahren überprüfen lassen, denn laut der 16. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes darf der Lärmpegel in "reinen und allgemeinen Wohngebieten" von 6 Uhr bis 22 Uhr 59 Dezibel nicht überschreiten - von 22 Uhr bis 6 Uhr muss er sogar unter 49 Dezibel liegen.

Fünf Aktenordner mit Behördenkorrespondenz und Unterlagen hat der Ärger wegen der neuen Reichsstraße dem Hause Lindner/Warnecke schon beschert. Seit gestern geht es für das Paar und viele andere Anwohner der künftigen Reichsstraße ans Eingemachte: Bis Mittwoch läuft - wenn der Andrang groß ist sogar bis Freitag - der "Erörterungstermin im gemeinsamen Planfeststellungsverfahren für die Verlegung der B4/75, die Anpassung von Eisenbahnbetriebsanlagen und die Errichtung von Lärmschutzanlagen in Wilhelmsburg". Als Versammlungsort hat die Wirtschaftsbehörde den Veranstaltungssaal Saray Dügün Salonu im Gewerbegebiet an der Schlenzigstraße ausgesucht. Seit gestern geben Behörden und Naturschutzvereine Stellungnahmen zum Planfeststellungsverfahren ab, heute ab etwa 15 Uhr Privatleute, die ihre Grundstücke verlieren sollen. Und ab Mittwoch können "sonstige Einwendungen von privater Seite" ab 10 Uhr geltend gemacht werden.

Über 300 Einwendungen sollen im Veranstaltungssaal zur Sprache kommen. Claus Warnecke hat eine 26 Seiten starke Einwendung gegen das Planfeststellungsverfahren geschrieben. Drei Punkte machen ihm vor allem Sorgen: Er fürchtet um die Gesundheit seines Enkelsohnes, der sehr empfindlich gegen Lärm und Luftschadstoffe ist; er sieht die Lebensqualität der Mehrgenerationenfamilie sinken, "wenn man von rechts und links nur noch vom Lärm umrauscht wird"; und er sieht den Wert der Immobilie sinken.

Derweil hat der Bund schon begonnen, Grundstücke in der Reichsstraßenschneise aufzukaufen. Ein Paar ist schon im Mai 2011 aus dem Vogelhüttendeich 160 ausgezogen. Ein Mann wohnt noch im Vogelhüttendeich 165. Und zwei von neun Parteien wohnen noch im denkmalwürdigen Rubbert-Haus von 1891 (Vogelhüttendeich 159).

"Aufgrund der Gewerbebebauung an der Rubbertstraße und dem erforderlichen Anschluss an den Trog unter den Bahngleisen nördlich des Ernst- August-Kanals muss die neue Trasse der B 4/75 den Vogelhüttendeich zwischen der Rubbertstraße und der Bahnunterführung queren", schreibt die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH (DEGES) im Auftrag der Stadt. "An dem Straßenabschnitt befinden sich sechs einzelne Wohnhäuser und ein Mehrfamilienhaus einschließlich dazugehöriger Gartenflächen. Von diesen Gebäuden müssen drei bei einer Verlegung abgerissen werden, darunter auch das Mehrfamilienhaus (Rubbert-Haus)."

Claus Warnecke wundert sich indes, dass auf einem Grundstück am Vogelhüttendeich schon Bäume gefällt wurden, obwohl es noch keinen Planfeststellungsbeschluss gibt. Die DEGES hat ihm Antwort gegeben: "Wie Sie richtigerweise erkannt haben, sind bauvorbereitende Maßnahmen auf den benötigten Grundstücken am Vogelhüttendeich angelaufen. Wir beabsichtigen, diese Maßnahmen im laufenden und folgenden Jahr schrittweise fortzusetzen, um die Trasse kontinuierlich zu beräumen."